11. Rede: Prof. Dr. Klaus Töpfer

11. Rede: Prof. Dr. Klaus Töpfer

Rede von Prof. Dr. Klaus Töpfer am 1.Mai im Kaisersaal zu Schloss Corvey:

(Es gilt das gesprochene Wort).

Hoffmann von Fallersleben 2.0

Die Hoffmann von Fallersleben-Rede 2012 –
im Kaisersaal von Schloss Corvey,
unter diesen strengen – skeptischen – geistigen Augen der früheren Herrscher, die mich von den Wänden aus beobachten,
an diesem fürwahr geschichtsträchtigen Ort
Kloster Corvey:
Baulich über 1200 Jahre hinweg dokumentiert durch das majestätische Westwerk der Klosterkirche –
wahrlich ein Erbe der Weltkultur.
Es wird Zeit, dass dies auch die UNESCO so bewertet und Kloster Corvey als Weltkulturerbe offiziell ausweist.
Corvey – entstanden, getragen und beseelt aus frühem christlichen Glauben,
die europäische Klammer – das „Neue Corbie“,
dieses Benediktiner-Kloster in der Picardie, an der Somme.
Nicht nur baulich – auch und gerade geistiges Weltkulturerbe,
Ausgangspunkt missionarischer Sendung.
Der Heilige Ansgar – erster Erzbischof von Hamburg und Bremen –
der Apostel des Nordens.

Die Hoffmann von Fallersleben-Reden!
Herausragende Persönlichkeiten haben mit ihren Reden in den vergangenen Jahren weit über das Corveyer Land hinaus aufhorchen lassen,
haben nachdenklich gemacht, haben eine Tradition begründet.

In dieser verpflichtenden Tradition steht meine Rede.
Als erster Redner in dieser Tradition der Hoffmann von Fallersleben-Reden,
der im Corveyer Land aufgewachsen ist.
Nur einen Steinwurf von diesem Kaisersaal aus entfernt in der Corveyer Allee.
Schüler des König Wilhelm-Gymnasiums in Höxter.
Direkt nach dem Krieg.
Über Hoffmann von Fallersleben hörte ich in der Schule wenig.
An keinen Wandertag kann ich mich erinnern, der mich mit meinen Klassenkameraden an sein Grab führte.

Unsicherheit damals im Umgang mit Hoffmann –
das Deutschlandlied –
von den Nazis schändlich missbraucht,
Deutschland über alles –
Einigkeit ohne Recht und ohne Freiheit – pervertiert.
Führer befiehl, wir folgen –
in die schwarze Nacht der teuflischen Verbrechen des Holocaust,
in den Weltkrieg der Millionen Toten und Flüchtlinge.
An Hoffmann von Fallersleben damals erinnern?
Machte diese Nationalhymne nach diesem Inferno der Unmenschlichkeit noch Sinn?
War diese Hymne nicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, geschunden, pervertiert?
Theodor Heuss präsentierte bereits einen Vorschlag für eine neue Nationalhymne – ohne jeden Erfolg.
So war Hoffmanns Grab im Schatten der Klosterkirche zu Corvey kein Ziel für uns, die Nationalhymne kein Thema des Unterrichts.

Als einer der Millionen Flüchtlinge wuchs ich auf
im Corveyer Land – in Höxter.
In Schlesien geboren – nicht weit von Breslau entfernt.
Dort war Hoffmann von Fallersleben Universitätsprofessor – bis seine so politischen „unpolitischen Lieder“ ihn das Amt kosteten.
Ein Aufmüpfiger, ein Wutbürger seiner Zeit.
Schlesien hat ihn mit geprägt, und er hat diese Region der ethnischen Vielfalt und der europäischen Kultur mit geprägt.
Als Bibliothekar in Corvey war er auch für die Bibliothek in Rauden verantwortlich,
die Bibliothek am Stammsitz in Ratibor –
an der Oder – in Schlesien.
Hoffmann sammelte und publizierte schlesische Lieder,
war in die Breslauer Gesellschaft eingebunden.
Die Gedanken schweifen – drohen, mir zu entgleiten.

Hoffmann von Fallersleben und dieser Rede 2012
kann ich so nicht gerecht werden.
Hoffmann zwingt mich in unsere heutige Zeit,
wie er sich selbst in die Zeit zwang.
Sein „Lied aus meiner Zeit“ endet:
„Du sollst das Alte lassen,
den alten, verbrauchten Leiertand.
Du sollst die Zeit erfassen.“
1842 geschrieben – nur Monate nach dem „Lied der Deutschen“.
Er zwingt mich in Zeit, die wir in ihren Folgen zu verantworten haben.

Es ist eine Zeit vielfältiger, dramatischer,
Menschen bedrohender Krisen – globaler Krisen –
in einer Welt mit bald 9 Milliarden Menschen.
Krisen, die nicht durch nationale Grenzen,
nicht durch nationale Politik aufgehalten oder gar bewältigt werden können,
Krisen, die nicht von einem Nationalstaat allein verursacht, nicht von einem allein verantwortet werden.
Die Unterscheidung zwischen
uns hier“ und „Euch dort“ verschwimmt,
es gibt immer mehr Bereiche menschlichen Lebens, die
out of the control of any individual state“ sind –
außerhalb der Kontrolle, der Verantwortung jedes einzelnen Staates.

Es gibt Bereiche, die geradezu souverän handeln –
die außer Kontrolle sind.
Joschka Fischer wird der bemerkenswerte Satz zugeschrieben:
„Niemand kann gegen die Märkte Politik machen.“

„Die Märkte: die globale Finanzarchitektur oder besser: das Finanzchaos einer von der realen Wirtschaft abgekoppelten Geldwirtschaft,
die großen Kapitalsammelstellen, die Hedgefonds,
die Rating-Agenturen – sie handeln autonom –
nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten –
außerhalb der Kontrolle jedes einzelnen Staates,
bar jeder demokratischen Legitimierung.

Ihre Entscheidungen sind für die Menschen auch in hoch entwickelten Ländern, auch für uns in Deutschland,
bedeutsamer als wirtschaftspolitisches Handeln der eigenen Regierung.
Der Süden Europas – Jugendarbeitslosigkeit bei nahezu 50% – eine verlorene Generation?
Die Auswirkungen auf die Ärmsten der Armen sind dramatisch.
Das Ende der Außenpolitik – „The end of foreign policy„,
wie ein englischer Außenminister vor einigen Jahren ein kleines Büchlein überschrieben hat – ohne Fragezeichen!
Ohnmacht der Politik –
„end of foreign policy“ –
niemand kann gegen die Märkte Politik machen –
„end of economic policy?“

In der Finanzarchitektur, im Terrorismus,
im Klimawandel, in der vielfältigen Ausbeutung der Natur, bei Spekulationen auf Nahrungsmittel in einem Meer von Hunger –
alles führt uns über die Kapazität eines jeden einzelnen Staates hinaus.
Carl Friedrich von Weizsäcker, der große Naturwissenschaftler,
dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 100. Mal jährt, hat bereits sehr früh eine „Weltinnenpolitik“ als zwingend erforderlich herausgearbeitet,
hat engagiert dafür gehandelt, gestritten –
Grundlage der Friedenspolitik.
Eine Weltinnenpolitik – die Vereinten Nationen können dieser Herausforderung nicht gerecht werden.

Das gemeinsame Merkmal der Krisen:
nationale Souveränität für die eigene,
verantwortliche Gestaltung der Zukunft –
sie zerrinnt wie Sand zwischen den Fingern,
zerbröselndes Gestein, von dem wir lange geglaubt haben, es seien solide Fundamente für eigenverantwortliche Gestaltung,
solide Fundamente für verlässliche menschliche Zukunft.

Ganze Handlungsfelder entziehen sich so den staatlichen, demokratisch legitimierten Begrenzungen, unterliegen ausschließlich den Eigengesetzlichkeiten, autonome Gebilde und Institutionen, nur ihren eigenen Gesetzen unterworfen, keinen anderen Wertordnungen verpflichtet als dem Bemühen, kurzfristig ökonomisch maximal erfolgreich zu sein –
Gerechtigkeit findet darin keinen Platz, Gier keine Grenze.

Unsicherheit und Zweifel haben vor diesem Hintergrund vielen Menschen Zukunftsorientierung genommen, haben die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet.
Vergiftet jenseits jeder Rationalität.
Zygmund Bauman sieht in unsere Zeit eine „flüssige Moderne“ (Liquid Modernity), die keine festen Strukturen mehr kennt.
Verbesserungen liegen, so argumentiert er, weniger
„in der Gesetz gebenden Aktivität der Gesellschaft
als in der Selbstverwirklichung ihrer Individuen“.

Der „Raum der Öffentlichkeit“ wird ausschließlich zur Bühne privater Dramen, auf der Politik zum Entertainment, zur Personality Show mutiert.

„There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families.“ –
eine bemerkenswerte Analyse Maggie Thatchers.

Nicht verwunderlich, dass sich in unserer politischen Realität des Tages die Piraten auf eine „flüssige Demokratie“ berufen.

Zunächst vielfach unbemerkt haben wir uns und unsere Gesellschaft dem Diktat der Kurzfristigkeit unterworfen, haben staatliche Souveränität ausgehöhlt und zunehmend verloren. Dies ist der gemeinsame Nenner aller aktuellen Krisen.
Immer klarer erahnten wir und wissen nun, was die Konsequenzen dieses Diktats der Kurzfristigkeit sind:
Soziale Verwerfungen, Ungerechtigkeiten innerhalb unserer Gesellschaft und zwischen den Nationen,
die Ausbeutung der Umwelt in allen Facetten –
„Kollateralschäden“ des Diktats der Kurzfristigkeit.

Dafür wird die Rechnung vorgelegt.
Der auf Kosten der Zukunft hoch subventionierte Wohlstand unseres Lebens in den so genannten entwickelten Staaten muss nun mit Zins und Zinseszins bezahlt werden. –
Die irrwitzig hohen Staatsschulden, vor deren Hintergrund die Zahlungseinheit 1 Million zu dem berühmten Peanut geworden ist.
Höhnisch-ironisch sagte man mir in China:
Die Höhe der Staatsschulden ist ein Indikator für Demokratie!

Nicht nur die Staatsschulden, die Kosten auch,
die durch kurzsichtige und kurzfristige Ausbeutung der Natur wegsubventioniert wurden –
die in den Preisen, die wir für unseren Wohlstand zahlen, unberücksichtigt bleiben.
Die Ozeane: zu hoch, zu warm, zu sauer.
Zerstörung von Lebensräumen der Natur, die notwendige Leistungen für das Überleben der Menschen liefern –
für 3 Milliarden Menschen ist das mehr,
sind insbesondere die Meeresrandzonen wichtigste Proteingrundlage.
Die Ozeane leer gefischt, Fische als „Beifang“ zum Abfall gemacht, verramscht als Tierfutter, abgefischt von den Fischereimaschinen der hoch entwickelten Länder –
vor den Küsten Afrikas und anderer armer Länder.
Erschöpfungszustände der Natur, in den Böden, im Verlust der Artenvielfalt, Vielfalt und Schönheit der Schöpfung, darin angelegte Wunderwerke genetischer Lösungen. –
In der Aufladung der Atmosphäre mit klimawirksamen Gasen –
überall die erschreckende Bilanz der Kurzfristigkeit,
überall die Kapitulation vor autonomen Institutionen, vor Sachzwängen.
Immer wieder die monotone Argumentation:
Erst muss die Krise bewältigt, der Brand gelöscht werden. Erst danach kann an die Ursachen der Krise herangegangen werden.
Müssen wir nicht viel dringlicher die Frage stellen,
inwieweit das Löschwasser deutlich mehr Probleme schafft als bewältigt.
Dass durch die Löschung des Krisenbrandes eine Veränderung der Strukturen noch schwieriger, wenn überhaupt noch möglich wird.

Die unsichtbaren Hände des Marktes werden zum Würgegriff – keiner kann Politik gegen die Märkte machen?
Die Finanzinstitute, Hedgefonds und das Investmentbanking –
sie werden zu groß, als dass man sie untergehen lassen könnte, „to big to fail“.
Ihr Scheitern würde das System insgesamt zerstören,
wieder trägt die Last der Unbeteiligte, der dafür nicht Verantwortliche.
Zunehmend fallen Haftung und Risiko auseinander,
Erträge werden privatisiert, Risiken sozialisiert.
Kein Wunder:
Dadurch werden Risiken massiv unterschätzt.
Die Kurzfristigkeit fordert ihre eigenen Opfer.

Die Automobilindustrie wird über die direkt und indirekt von ihr abhängigen Zahl der Arbeitsplätze systemrelevant. In der tatsächlichen oder vermeintlichen Krise verkürzen Abwrackprämien die Lebenszeit von Produkten, räumen Märkte – produzieren Abfall in einer Welt mit 9 Milliarden Menschen, die das Wegwerfen kategorisch überwinden muss, will sie eine friedliche Zukunft gestalten.

Der Soziologe und Philosoph Ulrich Beck,
Autor des weltweit höchst beachteten Buches
„Die Risikogesellschaft“,
Mitglied in der Ethikkomission,
er hat diese Veränderungen von Souveränität und Legitimität demokratischer Institutionen die
„Zweite Moderne“ genannt (Verbindung Bauman).
Was meint Beck damit?
Die alten Institutionen demokratischer Gesellschaften –
Parlamente und Regierung, Gerichte und Medien (Pressefreiheit), freie Meinungsäußerung –
sind, so argumentiert und belegt er, formal noch alle gänzlich intakt.
Es wird geheim und allgemein gewählt, es wird unabhängig Recht gesprochen, es gilt Meinungs- und Pressefreiheit.
Diese Institutionen werden aber mehr und mehr ihrer Funktionen, ihrer Entscheidungswirkung beraubt.
Es entstehen neue, informelle, flüssige Strukturen, ohne dass die alten revolutionär abgeschafft werden müssten.
Schleichende Veränderungen, kurzfristig kaum erkennbar.
Das Internet in der geradezu explosiv dynamischen Entwicklung vielfältiger Nutzungen –
die sozialen Medien in ihrer wachsenden Zahl, Intensität und Eigendynamik.
Informelle, flüssige, weitgehend anonyme Informations- und Kommunikationsnetze,
soziale Schwarmintelligenz,
Mobilisierbarkeiten –
die Internet-Revolution am Südrand des Mittelmeers.
Politische Mobilisierungen im digitalen Zeitalter.

Verantwortlichkeiten sind immer schwerer, wenn überhaupt zu verorten.
Der Hinweis auf die Verantwortung der Gesellschaft, der Politik, ist nichts anderes als eine kollektive Verantwortungslosigkeit.
So wird ausgehöhlt, was die Meinungs- und Pressefreiheit zu einem Pfeiler demokratischer Gesellschaften gemacht hat.
Zeitungen kämpfen um das Überleben und mutieren, wie das Beispiel von Murdoch in UK belegt, zu ebenso autonomen Institutionen, nur ihren eigenen Regeln unterworfen.
Die Verantwortlichkeit und Überprüfbarkeit von Informationen verschwimmen, die Beweislast nimmt ab.
Die „Zweite Moderne“
nicht das Alte geht weg, wird nicht weggeputscht,
das Neue übernimmt die Funktionen.
Der schleichende Funktionsverlust der Institutionen unserer demokratischen Gesellschaft, getrieben durch die alternativlosen Zwänge, höhlt nationalstaatliche Souveränität bewusst oder unbewusst aus.
Das „Tina Principle“ Maggie Thatchers:
„There is no alternative.“
Bestenfalls geht Souveränität geordnet und demokratisch mehrheitlich beschlossen über auf supranationale Institutionen – die EU usw.
Wird die Europäische Union schleichend zu einem Bundesstaat?
Der Übergang ist kaum rückholbar, kaum reversibel.
Krisen können von nationalen Regierungen nicht mehr demokratisch bewältigt werden,
Krisenbewältigung geht aus den gewählten Parlamenten über auf Fachleute –
in Griechenland, in Italien bereits Realität –
andere werden wohl folgen.
Das Vertrauen in Demokratie wird schwächer – flüssiger, „Zweite Moderne“.

Die „Zweite Moderne“:
Alles funktioniert noch in seinen demokratischen Abläufen und Institutionen –
aber diese bewirken nichts mehr, sie werden bewirkt.
Gerechtigkeit gerät unter die Räder –
öffentliche Armut und privater Reichtum.

In dieser nur verkürzt gekennzeichneten globalisierten Realität, in dieser Zeit über Hoffmann von Fallersleben nachdenken, über Deutschland nachdenken, über Hoffmann: den Dichter unserer Nationalhymne,
was bedeutet eine Nationalhymne in der „Zweiten Moderne“?
Hoffmann von Fallersleben –
der sich darüber ärgerte, so wird berichtet, dass die Bordkapelle auf dem Fährschiff, das ihn 1841 von Hamburg nach Helgoland brachte, die Marseillaise für die französischen und God save the Queen für die englischen Passagiere gespielt habe. Nichts aber wurde gespielt für die deutschen Passagiere. Eine Nation gab es nicht, alles auch keine Hymne.
Deutschland, damals der bunte Flickenteppich vieler souveräner Staaten, vor Fürsten- und Herzogtümern bis zu Königreichen.
Die Einheit Deutschlands zu besingen, war das damals nicht nachgerade Hochverrat an diesen vielfältigen Einzelstaaten, am herrschenden System.
Nicht verwunderlich:
Fast gleichzeitig mit der Nationalhymne schrieb Hoffmann die „Unpolitischen Lieder“, schrieb seinen Protest gegen die herrschenden Verhältnisse.
Ein Lied der Deutschen, ein Fanal für Einigkeit und Recht und Freiheit, Vision eines engagierten, eines radikalen, freisinnigen Demokraten.

Hoffmann von Fallersleben, der sich mit der Enge des Denkens, mit den damaligen Sachzwängen und Alternativlosigkeiten nicht abfand, nicht unterwürfiger Untertan sein wollte.
Eines der unpolitischen Lieder unter der Überschrift:
Niemandes Herr, Niemandes Knecht:
„Zum Amboß hielt ich mich zu schlecht,
zum Hammer war ich euch nicht recht.
So bin ich Amboß nicht noch Hammer
und rufe frei von Herzensjammer:
So ist es gut, so ist es recht,
Niemandes Herr, Niemandes Knecht!“

Aufmüpfig, der Herr Professor,
rebellisch, der Wutbürger.
Von diesem archimedischen Punkt nachdenken über Deutschland.
In den Koordinaten unserer Zeit der Aushöhlung des Staates, der Nation.
In den Koordinaten der kollektiven Verantwortiglosigkeit, der besorgten Ohnmächtigkeit gegenüber den nicht greifbaren, autonomen, eigengesetzlichen Sachzwängen.
In den Koordinaten der verletzten, ausgebeuteten Natur.

Hoffmann von Fallersleben 2.0 gewissermaßen –
würden unsere Kinder des Web.2 vermutlich sagen.

Lassen Sie mich eine weitere Dimension einbringen:
Paul Crutzen, der große holländische Nobelpreisträger für Chemie, der am Max-Planck-Institut der Universität Mainz forschte und lehrte, dieser hoch geachtete Wissenschaftler hat im Jahre 2002 einen Artikel in der weltweit wohl wichtigsten Wissenschaftszeitschrift „Nature“ veröffentlicht.
Der Titel: „Das Anthroprozän“.
Seine Argumentation, auf die Kürze eines Vortrages gebracht.
Das Holozän, in dem wir leben, es ist das letzte Erdzeitalter. Es wurde schleichend abgelöst durch das erste Menschenzeitalter, das Anthroprozän eben.
Die Frage, was ist Natur, was ist Kultur?
Die Natur, wie wir sie kennen, ist eine Idee der Vergangenheit – so wird argumentiert.
Der Mensch hat mit seinen Eingriffen in die Natur diese auf seine Bedürfnisse hin gestaltet –
Designerpflanzen werden ebenso realistisch wie Designerwetter. Die Unterscheidung zwischen „Naturkatastrophe“ und „Menschen gemachter Katastrophe“ wird immer fließender.

Immer tiefere Einblicke in die Bausteine und die Funktionsmechanismen von Natur und Leben.
Immer umfassender, immer risikoreicher angesichts der Gefahr, besonders mittel- und langfristige Wirkungen dieser Eingriffe nicht oder nicht richtig erkannt oder berücksichtigt zu haben. Climate Engineering –
Partikel in die Atmosphäre – Düngung der Ozeane.
Welche direkten und indirekten Folgen, inwieweit irreversible Veränderungen?
Diesen Fragen müssen wir nachgehen und gehen wir nach allein deswegen, weil bei anderen schon entsprechende Gesetze auf dem Tisch liegen,
besser in den Schubladen aufbewahrt werden.

Die Gensequenzen menschlichen Lebens sind entschlüsselt, die Genstrukturen der Natur ohnehin.
Der Mensch – Schöpfer bereits oder doch auf Dauer Geschöpf, wie es Johannes Rau kategorisch festschrieb?
Leben in einer Zeit, in der Google offenbar bereits mehr von uns weiß, als wir selbst über uns –
und dieses Wissen über uns nutzt.
Sind wir in unserer Individualität bereits Teil
dieser „Zweiten Moderne“
sind Opfer der heimlichen Verführer,
der tiefenpsychologischen Manipulationen?
Bestimmt Google uns mehr als wir Google?
Was kaufen wir, nicht weil wir es brauchen,
sondern weil wir so unbewusst gesteuert sind?
Wer kann noch das für sich unterschreiben,
was Martin Buber berichtet:
„Rabbi Michal sagte einmal zu seinen Söhnen:
Mein Leben war damit gesegnet, dass ich nie eines Dinges bedurfte, ehe ich es besaß.“

Wie folgenreich wird dieses Menschenzeitalter, dieses Anthropozän, für die Freiheit unserer Entscheidungen.
Wie weit reichend sind die unterschwelligen Bewusstseinsmanipulationen.
Wie weit ist die Ökonomisierung unserer Lebenswelt vorangeschritten?
Wie werden wir selbst in unserer Freiheit durch das Informationsdiktat in unserem Verhalten und in unseren Reaktionen beschnitten?
Wie weit hat die „Zweite, die flüssige Moderne“ uns bereits der Möglichkeit beraubt, uns von diesen Sachzwängen zu lösen, aus dem Diktat der Kurzfristigkeit wieder zu der Freiheit der Vielfalt, der Wahlmöglichkeiten zu gelangen?

Wichtige, Hoffnung machende Ansätze werden sichtbar.
Endlich wird ernsthaft gefragt, ob das Bruttosozialprodukt der richtige Wohlstandsindikator ist. Es wird intensiv danach geforscht, einen Maßstab für das Glück der Menschen zu finden –
der kleine Himalaja-Staat Bhutan hat dazu geradezu eine weltweite kraftvolle Bewegung ausgelöst.

Hoffmann von Fallersleben 2.0 – in unserer Zeit.
Herausforderung dazu, dass wir uns wieder aus den Zwängen der ökonomischen, der technischen, der psychologischen Kurzfristigkeiten befreien, uns entfesseln.
Dass wir dafür Sorge tragen, keine Institutionen und Handlungsfelder zu akzeptieren, die nach ihren autonomen Eigengesetzlichkeiten außerhalb demokratisch legitimierter Verantwortung und Regelung agieren – die „out of the control of any individual state“ sind.
Dass wir die Ökonomie wieder dienstbar machen und sie nicht im Selbstzweck der Finanzmärkte zerreißen,
dass es eben nicht mehr gilt:
„Niemand kann gegen die Märkte Politik machen „.

Es ermutigt mich, Zeichen dieser Veränderung auch in anderen Bereichen zu sehen – das wieder erstarkende Bewusstsein der regionalen Identitäten, der regionalen Sprachen und Dialekte, der Sitten und Gebräuche.
Vor wenigen Tagen war ich im Elsass in Frankreich.
Frankreichweit ein Demonstrationstag unter dem Aufruf: „Au secours des langues regionales“ –
Hilfe für die regionalen Sprachen.
In dem Kommentar einer regionalen Zeitung im Elsass las ich:
„Les langues regionales, ce n’est pas de folclore.“
Nicht Folklore, nicht Nostalgie also, sondern:
„C’est plus profonde, plus „utile“ que cela.“
Viel nützlicher viel wichtiger also, viel tief greifender.
Eigene Verantwortung, Stolz auf die eigene Identität.
So stand es auch auf den Plakaten der Demonstrierenden in Straßburg:
„Unseri Sproch isch Unser Schatz“.

Hoffnungsvolle Zeichen auch, das immer selbstbewusstere Mithandeln der Bürgerinnen und Bürger in den unterschiedlichsten Lebensbereichen.
Zu Recht sprechen wir bereits in der Wissenschaft von der Notwendigkeit „transdisziplinärer“ Forschung.
Eine Wissensdemokratie, wie in Lissabon beschlossen, muss Wissenschaft bereits in ihrer Entwicklung mit befruchten.
Die Einbindung der Gesellschaft bei der Entwicklung von Lösungen –
nicht nur ihre Beteiligung in den Genehmigungsverfahren –
das sind die Erfahrungen aus Stuttgart 21,
aus dem Ausbau des Frankfurter Flughafens –
aus vielen, vielen größeren oder kleineren Genehmigungsverfahren.
Es ist zu einfach, nur auf das St. Florians-Prinzip zu verweisen, nur eine „Dagegen-Gesellschaft“ zu diagnostizieren.
Dabei zu übersehen, dass aus dem „Dagegen“ vielfältige Impulse zum tieferen Nachdenken über bessere Lösungen entstanden sind und entstehen.

Verantwortung in der Gesellschaft:
Veränderung durch Wissen – aber auch:
Wissen durch Veränderung.
Im Zweifel für die kleinere, die dezentrale Lösung.
Hans Jonas, der große Philosoph der Verantwortung,
verpflichtet uns auf die „Heuristik der Furcht“:
„Im Zweifel die schlechtere Alternative berücksichtigen.“

Weitere hoffnungsvolle Entwicklungen:
jede neue Genossenschaft für erneuerbare Energien –
sie ist ein kleiner Aufstand gegen die bisher weitgehend anonymen Großstrukturen der Energieerzeugung.
Sie ist eine Ablehnung des bisher gelungenen Versuches, dass Bürgerinnen und Bürger über Elektrizität erst an der eigenen Steckdose nachdenken dürfen.
Generell zu fragen, wie Produkte, die wir kaufen, entstanden sind.
Bei den aus Asien importierten Textilien –
wie ist die Bilanz bei Wasser und Energie,
bei Luftverschmutzung, bei Kinderarbeit und sozialer Ausbeutung, die wir damit importieren?
Wie sieht es aus bei Produkten aus Afrika importiert?
Beispiele über Beispiele:
Wir dürfen und wir wollen uns nicht mehr mit dem kurzfristig Billigsten abspeisen lassen, sollten belegen, dass Geiz nicht geil, sondern verantwortungslos ist, wenn dadurch auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit und Fairness und zu Lasten einer ausgebluteten Umwelt Kosten auf andere Menschen oder auf die Zukunft verschoben werden.

Frei zu werden von Konsumzwängen, von einem sozial und ökologisch massiv subventionierten Lebensstil.
Nicht resignieren oder träumerisch Visionen erdenken.

Hoffmann von Fallersleben 2.0 – in unserer Zeit:
Wichtige Impulse zum Nachdenken über Deutschland in der globalisierten Welt.
In Corvey nachdenken, wie in dieser Welt, in diesem Menschenzeitalter, in dem mehr und mehr der Mensch die Natur macht, der Heilige Ansgar seinen Auftrag zur Mission verstünde.
In einer Zeit, in der wir hinausgegangen sind in alle Welt und bemüht waren, alle Völker unsere Sicht der Dinge zu lehren,
in einer Zeit, in der nichts unentdeckt und unverändert blieb.
In der wir die Welt immer rücksichtsloser ausgeplündert haben –
Vielfalt ist verloren gegangen, Verantwortlichkeiten verschwimmen.
Die Wegwerfgesellschaft unserer Tage –
sie gefährdet Entscheidungsfreiheiten kommender Generationen und der Menschen, die mit uns in anderen Erdteilen leben.
Sie ist zutiefst ungerecht und egoistisch.
Offen und bereichert zu sein durch Vielfalt,
kulturelle Vielfalt, Vielfalt der Natur,
Vielfalt der Ideen und des Miteinanders.
Den Wert und die Bereicherung zu erkennen,
die aus regionaler Identität, aus der Nachbarschaft,
aus der Heimat erwächst,
der Kultur, der Gesellschaft, die uns geprägt hat.
Eine Atmosphäre der Offenheit zu ermöglichen,
in der Vielfalt tolerant aufgenommen und respektiert wird und das Leben bereichert.
Selbst der „Spiegel“ hat der „Heimat“ einen eigenen Titel gewidmet –
ein untrügerisches Zeichen des sich verändernden Bewusstseins.
Ist das der „bessere Morgen“, von dem Hoffmann von Fallersleben in der letzten Strophe seines Wiegenliedes träumt:
„So schlaf in Ruh,
mein Söhnlein Du.
Verschlaf des Vaterlandes Nacht.
den Knechtssinn, die Despoten macht.
Verschlafe, was uns drückt und plagt.
Schlaf, bis der bessere Morgen tagt.“

Die Zwänge des Diktats der Kurzfristigkeit, die davon ausgelösten Konflikte und Krisen,
der schleichende Verlust der Souveränität und der Verantwortung für mich selbst,
die Sachzwänge eigengesetzlicher Institutionen –
sie machen uns „lebendig tot“, wie Hoffmann in der zweiten Strophe des Wiegenliedes schreibt.
Das Nachdenken über Deutschland,
eine Vision von der Rückgewinnung der Souveränität und der Verantwortlichkeit für eine demokratisch verfasste, parlamentarische Gesellschaft.
Eine bohrende Rückfrage,
inwieweit ein jeder von uns sich noch selbst verantwortet
oder inwieweit wir schon verantwortet werden.
Inwieweit wir selbst handeln
oder ob wir bereits gehandelt werden.
Ein Aufruf zum Ausbruch aus der kollektiven Verantwortungslosigkeit,
auf die Verlagerung der Verantwortung auf die Gesellschaft, auf die Politik, auf die in China,
auf die Anonymität von Finanzmärkten, die nur ihren autonomen Regelungen unterworfen sind, auf die Klimazerstörung, auf die Menschen gemachte Welt.
Sicherlich eine Vision, ein revolutionärer Anspruch geradezu, aber :
Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.
Sie waren 1841, als Hoffmann von Fallersleben das Lied der Deutschen auf Helgoland dichtete, Visionen, waren Aufruf zur Revolution, zur Veränderung.
Sie werden nicht Realität dadurch, dass wir auf sie warten, sie nur herbeisehnen, sondern dadurch, dass wir dafür handeln.