13. Rede: Prof. Dr. Herfried Münkler

13. Rede: Prof. Dr. Herfried Münkler

Rede von Prof. Dr. Herfried Münkler

anlässlich der Verleihung der Hoffmann-von-Fallersleben-Medaille in Schloss Corvey am 1. Mai 2014

DER ERSTE WELTKRIEG ALS (LETZTER) REICHSEINIGUNGSKRIEG

Anrede…

Ich will heute nicht über mich und mein Verhältnis zu August Heinrich Hoffmann von Fallersleben sprechen. Das haben einige der Geehrten in den vergangenen Jahren ja bereits getan, und ich fürchte, die Varianz dabei ist nicht groß genug, dass dies für Sie hinreichend interessant und unterhaltsam wäre. Auch bei mir ist der bewusste Bezug zu Hoffmann lange im Wesentlichen das „Lied der Deutschen“ gewesen, dazu das Wissen darüber, dass Hoffmann zu der Gruppe derer gehörte, die im Vormärz ihrer politischen Einstellung wegen benachteiligt wurden und unter Repressionen zu leiden hatten – und wie viele der mir aus Kindheit und Jugend vertrauten Lieder von Hoffmann verfasst wurden, das ist mir eigentlich erst bei der Vorbereitung auf den heutigen Tag klar geworden. Insofern war der Namensgeber der mir heute verliehenen Medaille seit langem – von Kindesbeinen an, wenn man es ein wenig pathetisch formulieren will – ein literarischer Begleiter, wenn er auch für mich unsichtbar war oder zumindest keinen Namen hatte. Unter den Intellektuellen und Gelehrten des Vormärz gehört Hoffmann von Fallersleben zu den bekannten Unbekannten oder unbekannten Bekannten. Dass Sie hier in Corvey und Höxter seit mehr als einem Jahrzehnt etwas gegen diese Unbekanntheit Hoffmanns oder auch an Nachlässigkeit im Umgang mit dem Verfasser unserer Nationalhymne unternehmen, ehrt zunächst und vor allem Sie selbst, und sodann strahlt davon etwas auf die Gelehrten ab, und dass ich dies in diesem Jahr bin, freut mich sehr, und dafür möchte ich mich bei Ihnen herzlich bedanken.

Ich werde nun anschließend aber nicht über den Literaten oder auch nicht über den Literaturwissenschaftler Hoffmann von Fallersleben sprechen, sondern mich mit einem Thema beschäftigen, das in diesem Jahr zu den zentralen Gedenkereignissen gehört: dem Jahre 1914 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und ich werde dessen Verlauf und seine Folgen unter einer Frage behandeln, die man als die Hoffmann’sche Frage bezeichnen könnte: Es soll nämlich um die Frage gehen, warum das damals erst seit gut vier Jahrzehnte bestehende Deutsche Reich, das geeinte oder geeinigte Deutschland in der Sprache der Nationalliberalen, am Ende dieses Krieges nicht in die Teile zerfallen ist, aus denen es knapp ein halbes Jahrhundert zuvor zusammengesetzt worden war. Dass Deutschland als Nationalstaat das Ende des Fürstenbundes überstanden hat, der seit 1871 die staatsrechtliche Grundlage des Deutschen Reichs bildete, war keineswegs selbstverständlich, und es hätte durchaus sein können, dass das Hohenzollernreich das Schicksal der Donaumonarchie oder des Zarenreich geteilt hätte und in eine Reihe von Einzelstaaten zerfallen wäre oder sich einige Ethnien, ins Deutsche häufig als „Stämme“ übersetzt, davon abgespalten hätten.

Dass dem nicht so war, hat auch mit dem politischen Projekt zu tun, das Hoffmann in seinem „Lied der Deutschen“ formuliert hat, und zwar nicht nur in der dritten Strophe – „Einigkeit und Recht und Freiheit“ –, sondern auch in der ersten Strophe, und dort in der ersten Zeile – „Deutschland, Deutschland Über alles, über alles in der Welt“ –, bei der wir die Intentionen des Verfassers nur dann richtig verstehen, wenn wir sie nicht als konkurrentielle Hybris gegenüber anderen Nationen in Europa oder gar der „Welt“ hören, sondern als politische Identitätsmarkierung und Loyalitätseinforderung gegenüber regionalen Landespatriotismen und Loyalitäten zu den jeweiligen Landesherrn. „Deutschland, Deutschland über alles“ – das hieß für Hoffmann ja, dass die, um mit dem Historiker Benedict Anderson zu sprechen, „imagined community“, die vorgestellte, die imaginierte Gemeinschaft der Nation, höher stand und stärker inklusiv war als alle konkurrierenden Identitäten und Loyalitäten, seien es nun reichsstädtische oder landesherrschaftliche, bayerische oder württembergische, welfische oder hohenzollernsche Loyalitäten. Der Test darauf war das Jahr 1918, und das umso mehr, als die militärische Niederlage am Ende des Ersten Weltkriegs gleichsam die spiegelbildliche Umkehrung des militärischen Sieges über Frankreich im Krieg von 1870/71 war. Und da Kriege ja immer auch mit Gewalt betriebene Revisionen vorangegangener Ereignisse und Entwicklungen sind, hätte 1918/19 auch zur Revision der Reichsgründung von 1870/71 werden können. Warum war das nicht der Fall? Dieser Frage will ich im Folgenden nachgehen, und dabei wird August Heinrich Hoffmann mein Begleiter sein.

 

I.
In der jüngeren, zumal der kulturwissenschaftlich angeleiteten Forschung wird die Nation nicht mehr als eine Entität betrachtet, die schon immer da war, auch wenn sie erst sehr viel später ins politische Bewusstsein gelangt ist, bei der es sich also um ein Emergenzprodukt aus unvordenklichen, jedenfalls sehr weit zurückliegenden Zeiten handelt, wie man das im 19. Jahrhundert überwiegend gesehen hat, sondern sie wird inzwischen als ein politisches und/oder kulturelles Konstrukt betrachtet, bei dessen Entstehung entweder Herrscher oder aber Intellektuelle und Wissenschaftler die entscheidende Rolle gespielt haben. An die Unterscheidung des Historikers Friedrich Meinecke zwischen „Staatsnation“ und „Kulturnation“ anknüpfend, kann man sagen, dass es Natiogenesen, Nationwerdungen gibt, bei denen die staatliche Ordnung und der Wille des Herrschers die entscheidende Rolle gespielt haben, und Nationen, bei denen die Idee der nationalen Zusammengehörigkeit gegen die bestehende Staatsordnung aus der Gesellschaft heraus, zumeist von Gelehrten und Schriftstellern, Wissenschaftlern und Intellektuellen durchgesetzt worden ist. Frankreich ist üblicherweise das Paradebeispiel für ersteres, Deutschland das Beispiel für letzteres. Man könnte auch sagen, dass im ersten Fall, dem der Staatsnation, die Instrumente der Macht ausschlaggebend sind, während im zweiten Fall, dem der Kulturnation, die Macht der Symbole die entscheidende Rolle spielt. Das ließe sich gerade am Beispiel Hoffmanns explizieren.

Über längere Zeit hat die Formel des Soziologen Helmuth Plessner, wonach Deutschland eine „verspätete Nation“ war, große Attraktivität gehabt. Mit Blick auf die politische Geschichte besaß diese Formel unmittelbare Evidenz, und so wurde sie zu einem der Begleitbegriffe für die Theorie vom „deutschen Sonderweg“, derzufolge die Deutschen historisch vom (west)europäischen Normalweg abgewichen seien, und diese Abweichung wiederum galt als Erklärung für die Irrungen und Wirrungen, die Unglücke und Katastrophen, das Leid und die Verbrechen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem enthielt die Theorie vom Sonderweg aber auch einen politischen Appell, nämlich den, sich nach Kräften dem europäischen Normalweg anzunähern und den Sonderweg zu verlassen, der Deutschland ins Unglück geführt habe. Das war seit den 1960er Jahren die geschichtspolitische Leitidee der alten Bundesrepublik.

Nun haben die Forschungen von Eric Hobsbawm und anderen gezeigt, dass auch in Frankreich die Idee der Nation und die Verwendung der französischen Sprache erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts flächendeckend durchgesetzt worden ist. In der Frage der kognitiven und mentalen Nationalisierung besteht darnach kein so großer zeitlicher Abstand zwischen Franzosen und Deutschen, jedenfalls ist er nicht so groß, dass man wirklich von einer nationalen „Verspätung“ der Deutschen im europäischen Maßstab sprechen könnte. Die Differenz zwischen Deutschen und Franzosen ist nicht temporaler, sondern struktureller Art: Im einen Fall ging die Durchsetzung nationaler Identität auf ein politisches Ereignis zurück, nämlich die Revolution und die Absetzung bzw. Hinrichtung des Königs sowie das Wirken einer staatlichen Administration, und im andern Fall wurde die Idee der nationalen Identität von einigen Gelehrten und Literaten entwickelt und politisch ins Spiel gebracht, um ein vergleichbares (revolutionäres) Gründungsereignis zu bewirken und eine Administration zu bekommen, die der kulturellen Identität politisch-institutionellen Halt verleihen sollte. Doch die Gelehrten und Intellektuellen verfügten über keine organisierte, institutionell begründete Macht, sondern sie waren hochgradig verwundbar, wofür Hoffmann ja ein Beispiel war. Diese Intellektuellen gewannen jedoch – Ironie des politischen Betriebs – gerade dadurch ein Charisma, dass sie verwundet wurden, d.h. persönliche Nachteile ertragen mussten, die ihnen von der staatlichen Administration ihrer politischen Haltung wegen zugefügt wurden. Das Fehlen der revolutionären Märtyrer wurde in Deutschland somit durch die Benachteiligung national gesonnener Gelehrten und Literaten kompensiert. Die Geschichte des Vormärz musste und muss immer noch die Stelle einnehmen, die die Revolution von 1848 ob ihres Scheiterns und der Machtlosigkeit der zum großen Teil aus Gelehrten bestehenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche nicht einnehmen konnte – jedenfalls in einer konsequent liberalen Sicht; ihr trat dann die Sicht gegenüber, wonach es das Militär gewesen sei, dass in zwei oder drei Reichseinigungskriegen die nationale Einheit geschaffen habe.

Mit dieser Konkurrenzerzählung von der Rolle, die die Intellektuellen oder das Militär bei der Herstellung der deutschen Einheit gespielt haben, ist das Deutsche Reich politisch groß geworden, und so stand von Anfang an zur Debatte, ob die Deutschen nun eine Kulturnation, wie Meinecke meinte, oder ein Militärstaat seien, wie manche kritisch und andere wiederum enthusiastisch erklärten. Vor allem im deutschen Bürgertum gab es ein Bedürfnis nach Überwindung bzw. Versöhnung dieses Gegensatzes, und das zeigte sich auch und gerade im Ersten Weltkrieg, als sich die deutschen Wissenschaftler zum „Kriegsdienst mit der Feder“ aufgerufen fühlten, um die Nation zu verteidigen, als deren Hüter sie sich sahen. Sie wollten die Sache dieses Mal nicht allein dem Militär überlassen. Darin kam immer auch ein Misstrauen, zumindest eine skeptische Distanz gegenüber der Politik zum Ausdruck: Die deutschen Literaten und Wissenschaftler waren im Ersten Weltkrieg auch darum so laut und lärmend, weil sie befürchteten, sich bei der Verteidigung des Nationalen auf die Politik der Staatsmänner nicht hinreichend verlassen zu können. Hatten sie Gründe dafür?

 

II.
Wie die politische und militärische Organisation des Deutschen Reichs das vorsah, zog 1914 kein deutsches Heer, sondern ein preußisches, ein sächsisches, ein bayerisches und ein württembergisches Heer in den Krieg. Das entsprach den vier Königreichen, die im Deutschen Reich zusammengeschlossen waren. Die Großherzogtümer, die es auch noch gab, hatten ihre Truppen dem Oberkommando des angrenzenden Königreichs zu unterstellen. Wer sich etwas eingehender mit der Geschichte des Ersten Weltkriegs beschäftigt, wird immer wieder auf die Rivalitäten stoßen, die sich aus dieser Militärorganisation ergaben – weniger bei den Soldaten als vor allem auf der Ebene der kommandierenden Generäle, der Armee- und der Heeresgruppenführungen und schließlich der jeweiligen Herrscherhäuser, die den Erfolg ihrer Regimenter für sich und ihre politische Reputation in Anspruch nehmen und nicht in einem verfassungsrechtlich diffusen Deutschlandbild versickern lassen wollten. Dafür gab es Gründe, denn die Großherzöge und Könige wurden von der Bevölkerung für die Verluste und Opfer des Krieges verantwortlich gemacht; da wollten sie auch den Ruhm und die Ehre, die im Kriegsverlauf anfielen, auf ihrem politischen Konto verbucht wissen. „Deutschland“ war dagegen eine verfassungsrechtlich nicht greifbare Kategorie, die im politischen Raum als Sammelbegriff für den Anspruch des Bürgertums und womöglich gar der Arbeiterschaft auf größere politische Partizipation und mehr politischen Einfluss zirkulierte. Das hatte militärische und politische Folgen, die für den Kriegsverlauf bedeutsam waren. Drei davon will ich kurz darstellen.

Vermutlich wurde die Marneschlacht, an deren Verlauf der gesamte deutsche Kriegsplan hing – von den politischen Folgen des Bruchs der belgischen Neutralität gar nicht zu reden –, durch die logistischen Probleme bei der deutschen 1. und 2. Armee, also dem rechten Flügel der deutschen Angriffsbewegung, entschieden: Das belgische Eisenbahnsystem, das den vorrückenden Deutschen nur zum Teil unzerstört in die Hände gefallen war, war deutlich weniger leistungsfähig als das gut ausgebaute französische Eisenbahnsystem im Großraum Paris, und letzteres ermöglichte Generalissimus Joffre in der entscheidenden Phase der Marneschlacht, im großen Umfang Truppen vom rechten auf den linken französischen Flügel zu verschieben, jenen Flügel, der seit Ende August in akuter Gefahr stand, von dem für die französische Militärführung überraschend starken rechten Flügel der Deutschen umfasst zu werden. Es waren danach nicht der unglückselige Oberstleutnant Hentsch und seine angebliche Rückzugsentscheidung, die für den Verlauf der Marneschlacht den Ausschlag gaben, auch nicht der Generaloberst von Bülow, der Kommandeur der 2. Armee, der jüngeren Forschungen zufolge wohl tatsächlich die Rückzugsentscheidung traf, und auch nicht der nervlich überforderte Generalstabschef Helmuth von Moltke d.J., sondern eine schwerwiegende Unterschätzung der Logistik, die dazu führte, dass in der entscheidenden Phase der deutschen Offensive entgegen den Vorstellungen Graf Schlieffens nicht die Deutschen, sondern die Franzosen im Großraum Paris kräftemäßig überlegen waren. – Wie war es dazu gekommen, dass die gerade in Fragen des Eisenbahntransports so versierte Aufmarschabteilung des deutschen Generalstabs sich derart verkalkuliert hatte?

Aber vielleicht hatte sie sich ja gar nicht verkalkuliert, sondern der Erfolg der bayerisch geführten und überwiegend aus bayerischen Regimentern gebildeten 6. Armee der Deutschen in der Grenzschlacht bei Saarburg und Mörchingen hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Schlieffen war nämlich davon ausgegangen, dass die Franzosen in einem Krieg mit Deutschland nicht defensiv bleiben, sondern ihrerseits zum Angriff antreten würden, und rechnete mit einer französischen Offensive im Saar-Mosel-Raum. Seiner Vorstellung nach sollte diese Offensive unter hinhaltendem deutschen Widerstand bis auf deutsches Gebiet vorstoßen können, und Schlieffen hoffte, dieser Erfolg aus Sicht der Franzosen werde dazu führen, dass sie ihre Reserven hier einsetzten, um den sich abzeichnenden Erfolg in den entscheidenden Vorstoß bis zum Rhein und darüber hinaus umzuwandeln.

Tatsächlich sah der Plan XVII, der den französischen Operationen im Sommer 1914 zugrundelag, einen solchen Vorstoß bis zum Rhein und darüber hinaus ins Ruhrgebiet vor, um durch die Eroberung von Deutschlands wichtigstem Industrierevier den Krieg siegreich zu beenden. In Schlieffens Plan war das die Falle, in die er die Franzosen locken wollte, denn je weiter sie nach Deutschland eindrangen, desto weniger würden sie in der Lage sein, ihre Truppen vom Zentrum auf den linken Flügel zu verlegen, wenn der starke deutsche rechte Flügel dort die Entscheidung des Krieges herbeiführte. Man hat dies als den „Drehtüreffekt“ des Schlieffenplans bezeichnet, der für dessen Gelingen ebenso entscheidend war wie der starke rechte Flügel selbst. In der militärfachlichen Kritik an Schlieffen ist diese Komponente seines Plans häufig übersehen worden.

Doch dieser „Drehtüreffekt“ kam nicht zustande, weil die deutsche 6. Armee bei Saarburg und Mörchingen die französische Offensive stoppte, den beiden angreifenden französischen Armeen eine schwere Niederlage zufügte und anschließend ihrerseits zum Angriff überging, der dann in den Befestigungssystemen vor Nancy steckenblieb. Die Folge war, dass die französischen Divisionen nicht „im Sack steckten“, sondern dass Joffre über sie verfügte, sie verschieben, aus dem Zentrum abziehen und an der Marne in die Schlacht werfen konnte. Das bessere Eisenbahnsystem um Paris hätte den Franzosen wenig genützt, wenn keine Truppen verfügbar gewesen wären. Warum aber hat die deutsche 6. Armee sich nicht an die Vorgaben des Schlieffenplans gehalten? Sicherlich spielten dabei zunächst Führungsfehler der Franzosen eine Rolle, die exzentrisch operierten und damit die Deutschen zum Gegenstoß geradezu einluden. Ich denke, dass letzten Endes für das Vordringen anstelle des Sich-Zurückziehens der bayerischen Truppen aber die Psychologie des das Deutsche Reich bildenden Fürstenbundes ausschlaggebend war: Die 6. Armee wurde vom bayerischen Thronfolger Kronprinz Rupprecht kommandiert, bestand im Wesentlichen aus bayerischen Einheiten, und offensichtlich war es für deren Führung wie ihre Soldaten unerträglich, sich selbst zurückzuziehen und deutsches Gebiet preiszugeben, während die preußischen Armeen des deutschen rechten Flügels den Sieg erringen sollten. Graf Schlieffen hatte in seinem Feldzugsplan die psychologischen Probleme unterschätzt, die aus seiner Anlage resultierten. Das galt nicht nur für Ostpreußen, einem im Kontext des Schlieffenplans häufiger thematisierten Problem, sondern auch für das Saar- und Moselgebiet und selbstverständlich auch für den Anspruch der Wittelsbacher und der Bayern, in diesem Krieg nicht nur eine unspektakuläre Hilfestellung zu leisten, sondern entscheidend zum Sieg beitragen zu wollen. Die Folgen dessen habe ich beschrieben.

Mit umgekehrten Vorzeichen wiederhole sich das im Frühjahr 1918, als die Deutschen nach dem Freiwerden starker Kräfte im Osten zu ihrer letzten Offensive antraten, mit der sie den Sieg im Westen doch noch erzwingen wollten, bevor durch das Eingreifen der USA das Kräfteverhältnis endgültig zu ihren Ungunsten verschoben sein würde. Nach dem Fehlschlag der deutschen Offensive vom Frühjahr 1916 gegen die Franzosen bei Verdun hatte die neue 3. OHL unter Hindenburg und Ludendorff den Frontabschnitt der Briten für den Offensivschlag vorgesehen, was hieß, dass die als kriegsentscheidend angesehene Offensive im Bereich der „Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht“ und nicht in dem der „Heeresgruppe deutscher Kronprinz“, also unter bayerischer und nicht unter preußischer Führung stattfinden würde. Das aber war aus politischen Gründen nicht möglich, und deswegen hat Ludendorff die deutsche 18. Armee, die den linken Flügel der Offensive bildete und nach einem erfolgreichen Durchbruch das Einschwenken der Angriffsformationen in Richtung Ärmelkanal decken sollte, der Heeresgruppe Rupprecht entzogen und sie der Heeresgruppe Kronprinz unterstellt. Diese Entscheidung hat wesentlich dazu beigetragen, dass die deutsche Offensive sich immer mehr in Richtung Paris
entwickelte, anstatt parallel zur Somme in Richtung Boulogne, also zum Ärmelkanal, vorzustoßen, um die britischen Armeen von denen der Franzosen zu trennen und so den Krieg zu entscheiden. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob der Krieg im Frühjahr 1918 bei einer anderen Zuordnung der 18. Armee einen für die deutsche Seite günstigeren Verlauf genommen hätte, aber für die politische Analyse des Krieges ist schon bedeutsam, dass hier abermals strategische Imperative hinter den politischen Erfordernissen der Reichsstruktur zurückstehen mussten.

Auf politischer Ebene zeigte sich die fehlende Eignung der Reichsverfassung für eine in großem Stil betriebene expansive Politik bei der Frage, wie denn das riesige Ostimperium, das die deutschen Truppen im Herbst 1917/Winter 1917/18 erobert hatten, politisch unter Kontrolle gehalten werden sollte. Was dabei herauskam, kann man nur als eine dynastische Posse bezeichnen: Die Mehrheit der deutschen Fürsten war nämlich nicht gewillt, das auf einen weiteren Machtzuwachs der Hohenzollern bzw. Preußens hinauslaufende Projekt zu akzeptieren, wonach Kurland, Estland und Livland, die aus dem Zarenreich herausstrebenden baltischen Staaten, in Gestalt einer preußisch-baltischen Personalunion an das Deutsche Reich gebunden werden sollten. Der König von Preußen hätte danach auch König der baltischen Staaten werden sollen. Um diesem Widerstand die Spitze zu nehmen, wurde erwogen, dem sächsischen Königshaus die litauische und den Württembergern die polnische Krone anzubieten. Des weiteren sollte Prinz Friedrich Karl von Hessen-Darmstadt zum finnischen König gewählt werden – was im Übrigen auch geschah, infolge des Kriegsendes und des Zusammenbruch der deutschen Macht aber nicht mehr umgesetzt werden konnte. Den Wittelsbachern sollte als Kompensation für den sächsischen und den württembergischen Machtzuwachs im Osten die Herrschaft über das Elsass übertragen werden, während Lothringen Preußen zugeschlagen wurde. Bei all diesen Überlegungen spielte die Balance von Macht und Prestige der deutschen Herrscherhäuser eine wichtigere Rolle als die Einheit Deutschlands; es ging um ein Austarieren der fragilen Konstellationen im Innern des Reichs, während nationalpolitische Überlegungen hintan standen.

 

III.
Man kann die überaus verworrene und politisch unübersichtliche Kriegszieldebatte, die in Deutschland während des Krieges geführt wurde, auch als einem Konflikt zwischen der politischen Idee des Nationalstaates und der eines Großreichs bzw. Imperiums beschreiben, bei dem die staatlichen und die sprachlichen wie kulturellen nationalen Grenzen nicht länger zur Deckung gebracht werden sollten, wie dies in der Nationalstaatsidee vorgegeben ist, sondern geostrategische und ressourcenpolitische Gesichtspunkte den Ausschlag gaben. Wo letzteres der Fall war, kam es zu einer ebenso ungeordneten wie unkontrollierten Anhäufung von Annexionsvorstellungen, die mit der Idee der Nation, wie sie im 19. Jahrhundert u.a. auch von Hoffmann entwickelt worden waren, wenig bis nichts mehr zu tun hatten. Da ging es um die Kontrolle der flandrischen Küste, ohne die man keine Sicherheit gegenüber England gewinnen könne, wie einige erklärten; es ging um die Erzvorkommen im Raum Briey-Longwy, deren Kontrolle die deutsche Eisen- und Stahlproduktion weiter steigern sollte; es ging um den so genannten „polnischen Grenzstreifen“, durch dessen Annexion man die deutsche Machtstellung im Osten steigern und an strategischer Tiefe gegenüber Russland gewinnen wollte, es ging schließlich um die baltischen Staaten, die man in den eigenen  Einflussbereich bringen wollte. Dabei war eigentlich von Anfang an klar, dass auf diese Weise weitere nationale Minderheiten ins Deutsche Reich inkorporiert wurden, durch die man sich zwangsläufig immer weiter von der Idee des Nationalstaats entfernte und dem politischen Modell eines multiethnischen Großreichs annäherte. Das politische Projekt der Nationalliberalen, die Durchsetzung und Konsolidierung eines deutschen Nationalstaats, geriet damit zunehmend in Gefahr, und ironischerweise resultierte die Gefahr dieses Mal nicht, wie die längste Zeit im 19. Jahrhunderts, aus der deutschen Schwäche, sondern aus der deutschen Stärke. Ein deutscher Sieg in diesem Krieg hätte vermutlich zu erheblichen politischen Auseinandersetzungen im Innern geführt, denn man hätte sich dann noch weiter von den Vorgaben eines Nationalstaats entfernt und sich dem eines multinationalen und multilingualen Imperiums angenähert, wie es die Donaumonarchie und das russische Zarenreich darstellten. In der Konsequenz heißt das, dass die Deutschen diesen Krieg verlieren mussten, wenn sie die politische Orientierung am Nationalstaat nicht aufgeben wollten. Oder sie hätten sich eine politische Selbstbeschränkung im Augenblick des Sieges auferlegen müssen, zu der sie kaum in der Lage gewesen wären. Der Krieg und die zeitweiligen Erfolge in ihm hatten die Schere zwischen Reichsidee und Nationalstaat, die 1871 notdürftig geschlossen worden war, wieder weit geöffnet.

Damit steckten die an der politischen Idee der Nation orientierten Intellektuellen in einem Dilemma, auf das sie nicht vorbereitet waren und aus dem sie auch nicht herauszukommen vermochten: Sie mussten die Idee der Nation als Begrenzungsrahmen der staatlichen Ordnung gegen diejenigen verteidigen, die militärische Siege zur Verwandlung des Nationalstaats in ein Imperium, und zwar kein Kolonialimperium, sondern ein europäisches Großreich unter Einschluss vieler nationaler Minderheiten, verwandeln wollten, d.h. sie mussten die Idee der Nation als restriktiven Rahmen gegenüber den expansiv-annexionistischen Perspektiven nutzen. Es waren nicht viele, die sich dieser Herausforderung stellten: der Soziologe Max Weber gehörte dazu, ebenso der Historiker Hans Delbrück sowie einige andere. Viele der Schriftsteller und Intellektuellen, Gelehrten und Wissenschaftler ließen sich dagegen von den Suggestionen imperialer Größe verführen und verabschiedeten sich zeitweilig von der Idee der Nation, ohne dass sie sich dessen hinreichend bewusst geworden wären. Sie glaubten, weiterhin national zu denken und zu argumentieren, aber tatsächlich waren sie bereits in das Fahrwasser der Imperialität bzw. des Imperialismus übergewechselt. Das war eine der Bahnen, auf denen viele von ihnen dann ins Einzugsgebiet des Nationalsozialismus gerieten, und das vermeintliche Verbindungsglied zwischen Nation und Imperium wurde für sie der Begriff der Rasse und die an ihn andockenden Expansionsvorstellungen.

 

IV.
Im Spätherbst 1918 war das Deutsche Reich vom Zerfall bedroht, und das weniger infolge der sich abzeichnenden Niederlage von außen, sondern von innen durch den Versuch Wilhelms II., seine Herrschaft in Preußen dadurch zu retten, dass er auf die Kaiserkrone des Reichs verzichtete, und zwar nicht, um dadurch einen anderen in Amt und Würden zu bringen, sondern schlichtweg als Niederlegung der Krone des Reichs. Die alte preußische Krone wolle er jedoch behalten. Staatsrechtlich wäre damit die durch die Kaiserkrönung Wilhelms I. erfolgte Reichsgründung, also die staatliche Einigung Deutschlands, wie dieser Akt von den Nationalliberalen verstanden worden war, wieder rückgängig gemacht worden. Das Reich wäre ohne Kaiser auseinandergefallen, denn formell hätte es dann zwar noch den Reichstag gegeben, aber keine Regierung mehr, denn die war vom Vertrauen des Kaisers abhängig. – Dazu ist es jedoch nicht gekommen, denn dieses für kurze Zeit durchgespielte Projekt zur Rettung des Hohenzollernthrons in Preußen wurde ebenso schnell wieder verworfen wie die von einigen Offizieren ins Spiel gebrachte Idee, der Kaiser solle sich an die Front begeben und dort den Heldentod suchen. Auch das war als ein Versuch gedacht, die Herrschaft der Hohenzollern über die Kriegsniederlage hinwegzuretten: Der Tod des Kaisers sollte ihm jenes Heldencharisma verschaffen, das er im Kriegsverlauf nicht hatte aufbauen können und durch das die preußisch-deutsche Herrschaftsfamilie in eine Reihe mit den zahllosen Familien getreten wäre, bei denen der Ehemann, der Vater oder einer der Söhne im Krieg gefallen waren. Es wäre dies ein Opfer gewesen, das politisch an das eigene Volk adressiert gewesen wäre, gleichsam eine Solidaritätsadresse des Herrscherhauses ans eigene Volk, das große Opfer gebracht hatte. – Auch dazu ist es nicht gekommen, weil Wilhelm II. dieses Ansinnen mit der Begründung ablehnte, das komme einem Selbstmord gleich, und der sei für ihn als Oberhaupt der evangelisch-unierten Kirche in Preußen unvorstellbar.

Es ist freilich überaus fraglich, ob durch den Tod des Kaisers an der Front die Hohenzollernherrschaft tatsächlich zu retten gewesen wäre, denn Kronprinz Wilhelm, der etatmäßige Nachfolger in Preußen und im Reich, war überaus unbeliebt, und als Kommandeur der 5. Armee in der Schlacht von Verdun hatte er nicht nur kein Heldencharsima aufbauen können, sondern galt danach allenthalben als ein gefühlloser Schlächter. Vom Kriegsende her betrachtet, war Verdun nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politisches Desaster. Nicht von ungefähr hatte man den Kronprinzen kommandieren lassen, wo man 1916 die Entscheidung des Krieges zu eigenen Gunsten herbeiführen wollte. Das Charisma des Siegers in der entscheidenden Schlacht des Krieges sollte keinem anderen als ihm zufallen, nachdem in der Umgebung des Kaisers mit Sorge beobachtet worden war, dass sich die Sieger- und Heldenimaginationen auf Generalfeldmarschall von Hindenburg konzentrierten, der in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend eine Position einnahm, wie sie eigentlich dem Kaiser zugedacht gewesen war.

Der Verlauf der Schlacht von Verdun hatte einen Strich durch diese Rechnung zugunsten des Kronprinzen gemacht, der als „Schlächter von Verdun“ nicht das Zeug hatte, die Monarchie in Preußen und Deutschland zu retten. Die Rolle, die Wilhelm I. im Zusammenspiel mit Bismarck und Moltke in den Reichseinigungskriegen von 1866 und 1870/71 gespielt und an der sich Wilhelm II. verschiedentlich orientierte, hat sich nicht wiederholen lassen. Auch deswegen kam im Späthebst 1918 die Idee auf, die Hohenzollernherrschaft wenigstens in Preußen zu retten und dabei das von Bismarck geschmiedete Bündnis zwischen dem Haus Hohenzollern und dem nationalliberalen Bürgertum in Deutschland aufzukündigen. Dass dieser Gedanke – und sei es auch nur für kurze Zeit – überhaupt erwogen wurde, zeigt, wie wenig man in der Umgebung des Kaisers den Krieg und seinen politischen Charakter begriffen hatte.

 

V.
Nicht die monarchischen Herrscher, sondern die bürgerlichen Mittelschichten und die Organisationserfordernisse des Militärs haben in diesem Krieg den Ton angegeben. Symbol dessen ist auf deutscher Seite der General Erich Ludendorff, der bürgerliche Herkunft (er verweigerte sich konsequent seiner Adelung), überragendes Organisationsgeschick und eine nur als brutal zu bezeichnende Entschlossenheit in seiner Person miteinander verband. Der Kaiser hat diesen Mann gefürchtet und sich lange dagegen gesperrt, ihn an die Spitze des Heeres zu stellen. Erst im Sommer 1916, als die militärische Lage nach dem deutschen Scheitern vor Verdun, der französisch-britischen Offensive an der Somme, dazu der Brussilow-Offensive im Osten und schließlich dem Kriegseintritt Rumäniens auf Seiten der Entente verzweifelt war, blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als Ludendorff als letzte Karte ins Spiel zu bringen und darauf zu hoffen, dass Hindenburg als dessen formeller Vorgesetzter und in der deutschen Öffentlichkeit allgemein bewunderter Heerführer das Krieger- und Siegercharisma auf seine Person ziehen und so entbürgerlichen und veradeln würde. Bekanntlich ist das ja zum Teil auch eingetreten. Tatsächlich aber hatte Ludendorff bis zu seiner Entlassung im Oktober 1918 nicht nur die militärischen, sondern auch die politischen Entscheidungen in der Hand, und es kommt nicht von ungefähr, dass einige ihn für diese Zeit als „Militärdiktator“ bezeichnen.

Die Ohnmacht des sich allmächtig dünkenden Kaisers Wilhelm, um eine auf Caesar gemünzte Formel des Althistorikers Christian Meier zu variieren, hatte sich bereits in der Julikrise 1914 gezeigt, als die Regierung ihn zunächst auf seine obligate Nordlandreise schickte, um in Berlin ungestört agieren zu können, und dann der zurückgekehrte Kaiser dann „auf den letzten Drücker“ noch versuchte, in direktem Kontakt mit seinen hochadligen Cousins, dem russischem Zaren und dem englischen König, den auf den Krieg zurasenden Zug zu stoppen – und dies völlig folgenlos blieb. Die Kaiser und Könige in Europa waren im Sommer 1914 nicht mehr Herr der Lage, und die sensibleren unter ihnen haben das gespürt, wenn sie es nicht sogar begriffen haben. Neben seiner politischen wurde Wilhelm auch mit seiner militärischen Ohnmacht konfrontiert, als er kurzfristig in den Aufmarschplan eingreifen und die Truppen, statt nach Westen, nach Osten in Marsch setzen wollte, weil doch Russland und nicht Frankreich der Kriegstreiber sei. Generalstabschef Moltke war über ein solches Ansinnen entsetzt, zeigte es doch, wie wenig der Kaiser von der organisatorischen Komplexität des Aufmarschs verstanden hatte: Seit dem Augenblick der Mobilmachung war eine Maschine angelaufen, in die man nicht mehr willkürlich eingreifen konnte. Politik nach Gutsherrenart, wie Wilhelm sie liebte, war unter diesen Umständen unmöglich geworden.

Folgenreicher noch aber war, dass die bürgerlichen Mittelschichten mit den ihnen eigenen Mitteln die Verfügung über die Definition von Freund und Feind an sich gezogen hatten. Das begann in der Julikrise bei der Presseberichterstattung, steigerte sich dann zu den jubelnden Massen, die Mobilmachung und Kriegserklärung – im Übrigen nicht nur in Berlin, sondern auch in St. Petersburg, Wien und Paris – erst forderten und dann begeistert begrüßten, und fand seinen Abschluss in den Reden und Broschüren der Gelehrten und Wissenschaftler, Dichter und Publizisten, in der diese den Sinn des Krieges in philosophischer oder theologischer Begrifflichkeit erklärten. Man hat die den Krieg feiernden Texte der Jahre 1914 und 1915 immer wieder als den moralischen Sündenfall der deutschen Intellektuellen bezeichnet – und fraglos waren sie das auch –, aber dabei hat man übersehen, dass diese Texte nicht nur „Kriegsdienst mit der Feder“ waren, sondern dass darin auch ein politischer Machtanspruch enthalten war, wenn etwa erklärt wurde, wer der eigentliche Feind sei, worin der tiefere Sinn dieses Krieges liege usw. Die kulturellen Deutungseliten erhoben den Anspruch, den Entscheidungseliten des Staates die Hand zu führen, die Vertreter der Kultur, bislang sorgsam von der politischen Macht ferngehalten, nutzten die Situation, um dem Staat und den darin Mächtigen zu sagen, was die Lage sei und was aus ihr zu folgen habe. Man wollte kein zweites Mal bloß Zuschauer sein, wenn die großen Fragen der Politik „mit Blut und Eisen“ entschieden wurden, wie dies 1870/71 der Fall gewesen war. Die Federn unterstützen nicht nur die Schwerter, sondern wollten ihnen auch die Richtung zeigen, in die sie zu kämpfen hatten.

Aber das Bürgertum machte sich nicht nur in zustimmenden Kundgebungen oder sinnstiftenden Texten zum zentralen Akteur dieses Krieges, sondern die jungen Männer aus den bürgerlichen Schichten strömten auch massenhaft zu den Fahnen, stärker und nachhaltiger jedenfalls als in jedem Krieg zuvor. Außerdem waren es vor allem Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht, die bis Ende 1916 in Deutschland die Finanzierung des Krieges trugen, indem sie Kriegsanleihe nach Kriegsanleihe zeichneten und ihr privates Vermögen einsetzten, um zum Sieg beizutragen. Erst nach 1916 reichten die so aufgebrachten Mittel nicht mehr aus, und es mussten eine Reihe neuartiger Steuern eingeführt werden, um den Krieg zu finanzieren. Es waren patriotische Begeisterung und nationale Gesinnung, die zu diesem Kriegsengagement des Bürgertums führten, das so ganz dem entgegenstand, was Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ von der politischen Partizipation der mittleren Schichten erwartet hatte. Aber insgeheim und gelegentlich auch ganz offen steckte in diesem Engagement doch auch politisches Kalkül, und das zielte darauf, dass die bürgerlichen Mittelschichten den Nachweis erbrachten, die politischen Geschicke des Staates und der Nation führen zu können und führen zu wollen. Die Führungskompetenz des Adels wurde dabei genau auf dem Terrain in Frage gestellt, wo sich die Aristokratie bis dahin relativ unangefochten behauptet hatte: auf dem des Krieges bzw., um es zu dramatisieren: auf dem Schlachtfeld. Wenn sich die Bürgerlichen hier den Adligen als ebenbürtig erwiesen, dann gab es keinen Grund mehr, ihnen zukünftig wo auch immer den Vortritt zu lassen.

Stellt man diese kompetitive Komponente des Krieges im Innern des Reichs in Rechnung, so ist klar, dass mit dem Abtritt des Kaisers der Nationalstaat nicht zerfallen wäre, sondern die so entstandene Leerstelle politisch sofort besetzt worden wäre. Schließlich hatten die Soldaten nicht wesentlich für die deutschen Herrscherhäuser, sondern für die Idee des Nationalstaates gekämpft und geblutet. Insofern war der Große Krieg von 1914 bis 1918 – sicherlich so nicht intendiert, aber von seinen funktionalen Effekten her – tatsächlich ein weiterer Reichseinigungskrieg, in dem Deutschland, nicht durch einen Sieg, sondern durch seine furchtbaren Verluste und Opfer, aus einem Fürstenbund zum Nationalstaat wurde. Die alte Herrschaftsstruktur des Reichs war im Verlauf dieses Krieges überflüssig, ja eigentlich störend geworden. Die Revolution vom November 1918 hat hier nur für alle sichtbar gemacht, was sich längst vollzogen hatte. In einem der verlogensten Schlachtenmythen des Krieges kam das sehr früh zum Ausdruck: dem Mythos von Langemarck aus dem November 1914. Das Lied, das die angreifenden Freiwilligenregimenter angeblich gesungen haben sollen, war keine der Landeshymnen, auch nicht „Heil Dir im Siegerkranz“ oder „Die Wacht am Rhein“, sondern Hoffmanns „Lied der Deutschen“. Wer genau hinhörte, wusste, dass das – auch – eine Kampfansage an die bestehende politische Ordnung des Reichs war. Aber im Getümmel des Krieges haben offenbar viele nicht hingehört oder waren politisch nicht sensibel genug. Hätten Sie Ohren gehabt zu hören, so hätten sie begriffen, dass dieses Lied nicht nur der Selbstaufmunterung der Kriegsfreiwilligen galt, sondern dass es auch eine politische Kampfansage nach innen war. Das ist vielleicht wirklich die Pointe eines deutschen Sonderwegs: dass sich die Nationalstaatswerdung hier nicht bloß über Reichseinigungskriege, sondern obendrein noch durch eine Niederlage vollzogen hat. Und August Heinrich Hoffmann hat dabei Pate gestanden.