16. Rede: Seyran Ateş

16. Rede: Seyran Ateş

16. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2017

am Sonntag, dem 1. Mai 2017, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey

Durchlaucht,

sehr geehrte Damen und Herren,

ja, meine 12-jährige Tochter ist gestern von einer Klassenfahrt aus Norwegen zurückgekommen und wurde von ihrer zweiten Mama, meiner Schwester abgeholt. Es geht ihr gut damit. Sie freut sich sehr für mich, dass ich heute vor Ihnen reden darf und von Ihnen ausgezeichnet werde. Ich freue mich auch sehr.

Vielen Dank für die Ehre, dass Sie mich für würdig erachtet haben, mich in die stattliche Reihe der „Hoffmann von Fallersleben Redner und Rednerinnen“ einzureihen. Es ist eine große Herausforderung, dieser Ehre gerecht zu werden, eine gute Rede zu halte, aus der Sie heute etwas Neues mitnehmen können, die abgedruckt und für die Nachwelt erhalten wird. Denn ich muss zugeben, dass ich schon ein wenig eingeschüchtert war, als ich so viele Bücher und Schriften bekommen habe, um mich auf die Rede vorzubereiten.

Damit will ich sicher nicht tiefstapeln. Ich bin selbstbewusst genug zu wissen, dass ich in bestimmten Dingen etwas zu sagen habe. Einen eigenen Blick und eine Perspektive habe, die auch für Sie meine Damen und Herren an der einen oder anderen Stelle durchaus neu sein dürfte, neu sein könnte.

Dennoch ist es eine besondere Herausforderung, verbunden mit einer durchaus berechtigten Aufregung. Jede Auszeichnung, jeder Preis hat seine Eigenart. Ich habe schon einige Ehrungen und Preise bekommen und weiß daher wovon ich spreche. Jeder Preis, jede Ehrung ist mit einem Thema oder einem Menschen verbunden, der wiederum für ein Thema steht. Wenn ich mir die einzelnen Auszeichnungen betrachte, die ich dankeswerterweise erhalten habe, dann haben sie eines gemeinsam. Es geht in der Regel um FREIHEIT.

Vorneweg

– die Freiheit des Denkens, gefolgt von

– der Freiheit sich eine eigene Meinung zu bilden,

– die Freiheit das gedachte und die Meinung, die man sich gebildet hat auszusprechen,

– die Freiheit, diese frei und selbstbestimmt gebildete Meinung in Wort und Schrift zu verbreiten,

– die Freiheit, sich mit anderen sich zu versammeln, um über die eigene Meinung zu diskutieren und

– die Freiheit, diese Meinung als Gruppe öffentlichen, auch auf der Straße kundzutun.

Und zwar auch dann, wenn es eine Meinung ist, die nicht mit der Meinung der Mehrheit einer Gesellschaft übereinstimmt und sogar, wenn es eine Meinung ist, die nicht im Einklang mit den Überzeugungen der Machthaber, der Regierung, eines Landes ist.

Der Namensträger der heutigen Auszeichnung, Hoffmann von Fallersleben stand ganz offensichtlich in dieser Tradition. Er reiht sich ein in die Liste der Menschen, die uns ein Erbe überlassen haben, die vieles vor unserer Zeit gedacht, ausgesprochen und erkämpft haben.

Und zwar zu Zeiten, in denen auch in Deutschland all die eben genannten Freiheiten keine Selbstverständlichkeit waren.

Nun stehe ich hier und darf eine Rede halten, um auf der einen Seite dazu beizutragen, das der große Name und das Wirken des Hoffmann von Fallersleben nicht in Vergessenheit gerät und auf der anderen Seite auf aktuelle politische Verhältnisse hinzuweisen, denen sich auch ein Hoffman von Fallersleben gewidmet hätte, wenn er heute noch leben würde. Das alles will ich versuchen ohne allzu viel zu wiederholen, was Sie in bisherigen Reden gehört haben.

Bei solchen großen Namen und Biographien, denen wir gerne gedenken und von denen wir sehr viel profitieren, stelle ich mir immer wieder die Frage, was würde z.B. Goethe zur neuen Rechtschreibung sagen, was würde Nietzsche zu dem House of one (dem Gebäude in dem eine Kirche, Synagoge und Moschee in einem Gebäude entstehen) sagen, was würde Lessing zur Diskussion über das Einwanderungsgesetz und multikulturelle Gesellschaften sagen, wie würde Freud die transkulturelle Identität kommentieren oder analysieren, wofür würde Olympe de Gouges vorrangig heute kämpfen, womit würde sich Rosa Luxemburg heute beschäftigen?

„Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden“. Diesen Satz hat uns Rosa Luxemburg hinterlassen. Diesen Satz muss man verstehen und leben können. Er trifft im Kern das, um was es in der Demokratie, in einer freien, offenen Zivilgesellschaft, einem demokratischen Rechtsstaat geht.

Hoffmann von Fallersleben strebte offensichtlich auch nach solch einer Freiheit und einem Land, in dem das möglich ist. Erlauben Sie mir hier einen kleinen Schwenk in Sachen Fallersleben und die Frauen.

Ich habe gelesen, dass Hoffmann von Fallersleben nicht besonders viel Glück in Sachen Liebe und Frauen hatte. So wurde erwähnt, dass Rosa Luxemburg gerade 3 Jahre alt war als er starb. Vielleicht habe ich das falsch rausgelesen, aber der Hinweis schien gemacht worden zu sein, um zu verdeutlichen, dass ein Mann wie Hoffmann von Fallersleben in seiner Zeit als kluger und begabter Mann Probleme hatte eine Frau auf Augenhöhe zu finden. Bei Nitzsche und anderen großen Männern treffen wir auf ein ähnliches Phänomen. Sie werden aus unserer Zeit betrachtet und bedauert, dass sie keine Ehefrau auf Augenhöhe gefunden haben.

Ich folge dieser Sichtweise nur auf die folgende Art:

Selbstverständlich gab es zu jeder Zeit Frauen, die auf Augenhöhe mit den großen Männern waren. Die Intelligenz und Talente waren zu jeder Zeit auf der ganzen Welt gleich verteilt. Nur das Recht sie zu nutzen war und ist auch heute noch nicht gleich verteilt.

So gesehen könnte es also passieren, dass ein Mann wie Hoffmann von Fallersleben auch heute kein großes Glück in Sachen Liebe und Frauen hätte. Denn die Frage, ob ein Mann eine Frau auf Augenhöhe als Partnerin will hängt von vielen Faktoren ab, die nicht selten in dem Charakter des Mannes liegen. Damit will ich sagen, dass große Männer nicht immer die Größe besitzen, eine Frau auf Augenhöhe tatsächlich auszuhalten. Es hätte also durchaus sein können, dass Fallersleben von einer Frau wie Rosa Luxemburg nicht besonders begeistert gewesen wäre oder sie wären ein historisches Paar geworden, dass gemeinsam Deutschland bewegt und gerüttelt hätte.

Man muss die Menschen immer in ihrer Zeit und den gesellschaftlichen Verhältnissen sehen. Die Tatsache, dass Hoffmann von Fallersleben seine Nichte geheiratet hat, und zwar mit 51 Jahren eine 18-jährige kann ich als Frauenrechtlerin nicht einfach übergehen. Auch oder gerade weil dieser Umstand in einer der Schriften, die mir vorlagen, wie folgt formuliert wurde (Textbuch und Bilder, Hoffmann von Fallersleben Museum, zur Geschichte deutscher Dichtung und Demokratie im 19. Jahrhundert, Seite 58f):

„Hoffmann war inzwischen 51 Jahre alt. Und nun endlich schien er gefunden zu haben, wonach er all die vielen Jahre vergeblich gesucht hatte: auf einer Reise zu seiner Familie in die Heimat traf er Ida zum Werke, die 18-jährige Tochter seiner Schwester Auguste. Sie war hochmusikalisch, ließ sich in Braunschweig zur Klavierlehrerin ausbilden und hat mit großem Erfolg eigene Konzerte als Pianistin gegeben.

„Ich sah sie wieder! Sie trat in unendlicher Freude mir entgegen, eine Jungfrau in der Fülle der Jugend und mit einer lieblichen Anmut und Selbstständigkeit in ihrem Wesen, dass ich erstaunt und entzückt war. Kein Wunder, dass ich eine stille Sehnsucht nach ihr hegte.“

Nach anfänglichem Zögern gab Ida Hoffmann von Fallersleben ihr Ja-Wort.

Der reife Mann trug seine junge Ehefrau auf Händen und versuchte nun endlich wieder eine gesicherte Existenz aufzubauen.“

Offensichtlich hatte Fallersleben also keine Frau auf Augenhöhe gesucht. Würde ich jetzt ganz frech ohne Anspruch auf Richtigkeit so interpretieren. Hier wurden unnötigerweise beschönigende Formulierungen gewählt. Das muss nicht sein und macht eher misstrauisch. Ich kann als Feministin und Frauenrechtlerin akzeptieren, wie ich eben bereits gesagt habe, die Menschen in ihrer Zeit und Gesellschaft zu sehen. Aber ich kann nicht akzeptieren, wenn es unnötig beschönigt wird. Wir reden über ein Ereignis im Jahre 1849. Also vor 168 Jahren.

Wie soll ich das nun formulieren? Es sind keine 200 Jahre vergangen, dass auch in Deutschland Männer ihre Nichten heiraten konnten. Fallersleben war kein Einzelfall. Oder, seien wir bitte unbedingt stolz darauf, dass in weniger als 200 Jahren nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in allen sogenannten westlichen Ländern diese Praktiken abgeschafft und den Frauen sehr viel mehr Rechte gegeben wurden, Frauen sehr viel mehr Rechte sich erkämpft haben, als beispielsweise in islamischen Ländern es aktuell der Fall ist.

Gottseidank darf heute in Deutschland kein Mann seine Nichte heiraten und eine Ehe zwischen einem 51jährigen Mann und einer 18jährigen Frau würde, insbesondere bei einer Person aus einem ähnlichen Stand wie Fallersleben Kritik einbringen. Man würde sagen ein „alter Mann nahm sich eine junge Frau“. So wie wir das bei dem Präsidenten der USA z.B. sagen. Womit ich den Präsidenten der USA keineswegs auf die intellektuelle Stufe mit Fallersleben stellen möchte. Mitnichten und im Gegenteil.

Von einem reifen Mann würde man also eher nicht sprechen. Im Gegenteil. Die Reife würde in einem solchen Fall dem Mann mit Sicherheit abgesprochen werden.

Warum ist mir die Erwähnung dieses Themas so wichtig? Weil wie gerade gesagt, in weniger als 200 Jahren dieses Land auch in Frauenfragen sich zu dem Land entwickelt hat, in dem ich lebe, dass ich liebe, dass ich meine Heimat nenne. nenne es Heimat, so wie ich die Türkei meine Heimat nenne. Ich habe zwei Heimaten, die mir ganz besonders am Herzen liegen, die sehr nahe sind und mich geprägt habe. Doch im Grunde ist sowieso diese Welt meine Heimat.

Heimat

Ich kam 1969 mit 6 Jahren nach Berlin zu meinen Eltern, die Gastarbeiter aus der Türkei waren, und habe somit meine gesamte Schulzeit in der deutschen Schule verbracht. Ich lernte deutsche Kinderlieder, die mir heute noch in den Ohren klingen und die ich an meine Tochter weitergegeben habe. Es sind die vielen Kinderlieder des Hoffmann von Fallersleben mit denen auch ich als Gastarbeiterkind aufgewachsen bin.

Fallersleben soll allein 550 Kinderlieder geschrieben haben, von denen 80 vertont wurden, neben vielen Volks- und Vaterlandslieder. Auch ich wuchs also auf mit Liedern wie:

„Kuckuck, Kuckuck ruft’s aus dem Wald“, „Alle Vöglein sind schon da“ oder „Ein Männlein steht im Walde“ um nur wenige zu nennen. Sie kennen alle diese Lieder. Diese Lieder gaben und geben mir ein Gefühl von Heimat. Warum? Weil sie mich in meiner Kindheit begleitet haben. Weil sie ein Teil meiner Kindheit waren. Zuhause hörten wir andere Lieder. Keine deutschen Lieder, sondern türkische Lieder. Auch diese Lieder waren ein Teil meines Heimatgefühls.

Ich hatte ein Heimatgefühl, was den Menschen um mich herum fremd war. Erst heute finde ich immer mehr Menschen, die mein Heimatgefühl teilen.

Es gab die Welt der Deutschen und die Welt der Menschen aus der Türkei. Die Heimat meiner Familie war nur die Türkei. Wir befanden uns in der Heimat der Deutschen. Meine Eltern sagten „das ist das Land der Deutschen“. Wir sind hier nur Gäste.

Das änderte sich mit den Jahren. Nicht ganz für unsere Eltern aber für uns Kinder und erst recht für unsere Kinder. Unsere Eltern hatten keine neue Heimat gesucht, sondern Arbeit, um ihre Kinder ernähren zu können. Sie wollten nicht in Deutschland, sondern in ihrer Heimat sterben und sind zurückgekehrt. Papa ist 2014 dort gestorben. Gott habe ihn selig.

Uns, ihren 5 Kindern, sagten sie, dass wir in der Türkei nicht mehr zurechtkommen würden. Wir würden jetzt mehr nach Deutschland gehören, als sie gingen und uns in Deutschland zurückließen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Finde ich. Der Heimatbegriff meiner Eltern war mir zu eng. Der Heimatbegriff vieler Menschen mit dem sogenannten Migrationshintergrund ist mir auch heute viel zu eng.

Heimat ist mehr als nur ein Land, zu dem man sich zugehörig fühlt. Heimat ist mehr als ein Land, dessen Staatsbürgerschaft man besitzt.

Stefan Zweig schrieb im Exil in seinen Erinnerungen: „Am Tage, da ich meinen Pass verlor, entdeckte ich mit achtundfünfzig Jahren, dass man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.“

Ja, Heimat ist mehr als nur ein Fleck umgrenzter Erde. Heimat muss aber auch nicht nur ein Stück Erde sein, auf dem man geboren wurde.

Lessing, der sich als Weltbürger verstanden hat, schrieb in „Nathan der Weise“ „ Und wie weiß man denn, für welchen Erdkloß man geboren, wenn man’s für den nicht ist, auf welchem man geboren?“

Die Globalisierung verflüssigt die Grenzen, auch die zwischen Heimat und Fremde, und wir tun gut daran, unsere bisherigen Glaubenssätze zu hinterfragen, wenn wir nicht blind und untätig von der Zukunft überrollt werden wollen. Alte Vorstellungen überdenken und dem neuen Raum geben. So wie es der Schriftsteller Theodor Fontane schon im 19. Jahrhundert forderte „Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben.“

Die Gefühle und Haltungen zum Thema sind vielfältig. Je enger der Begriff gefasst wird und je strikter er dazu dient, alles, was nicht Heimat ist, als fremd auszugrenzen, umso verheerender sind die Folgen. Sobald Heimat mit nationalem Denken und blindem Patriotismus verbunden wird, liefert sie die Legitimation von Hass, Rassismus und Krieg.

Herbert Grönemeyer singt in seinem Lied Heimat: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“

Ein Gefühl, dass sich nicht in die starren Grenzen eines Reisepasses oder eines umgrenzten Landes einsperren lässt. Eigentlich!

Uneigentlich definieren manche Menschen Heimat nur über das Land, die Erde auf dem Sie geboren wurden und dessen Staatsbürgerschaft sie besitzen. Der in Europa, aber auch in den USA um sich greifende Nationalismus ist eine Erscheinung dieses engen Heimatbegriffs.

Dabei ist das Gefühl „Heimat“ viel größer als die Staatsbürgerschaft, die man besitzt oder erwirbt. Heimat ist viel mehr Identität ist viel größer als Begriffe wie Vaterland oder Mutterland, bei denen sich im Begriffe handelt, die das Gefühl Heimat einsperren wollen.

„Ubi bene, ibi patria“ = „Wo es mir gutgeht, da ist mein Vaterland, meine Heimat“, besagt ein lateinisches Sprichwort.

Vaterland oder Mutterland beziehen sich auf den Geburtsort der Eltern, die vermeintliche Heimat der Eltern. Sobald aber Mutter und Vater in unterschiedlichen Ländern geboren wurden, und wenn sie auch noch in anderen Ländern aufgewachsen sind, als in ihrem Geburtsland, wird es kompliziert.

Wo ist Heimat? Fragt man dann zurecht. Oder unnötigerweise. Denn unser aller Heimat ist diese Welt, wie Baris Manço, ein türkischer Pop und Rocksänger, in seinem Lied „Memleket nere“ „Wo ist Heimat“ singt. Diese Welt ist meine Heimat.

Vaterland

Begriffe wie Vaterland und Mutterland beziehen sich, wie gesagt, auf das Stück Erde, wo Vater oder Mutter geboren wurden, beziehen sich auf das Land, dessen Staatsangehörigkeit man besitzt.

Doch was ist, wenn das Vaterland einen einschränkt, einen begrenzt, einem die Luft zum Atmen nimmt. Wenn das Land, in dem man geboren wurde, einem nicht das Gefühl von Heimat gibt? Kann man dann noch von Vaterland oder Mutterland sprechen?

Hoffmann von Fallersleben klagt, so heißt es in einem Sonett (1814?) über sein reaktionäres hannoversches Vaterland:

(…)

Der alte Adel schlinget neue Bande

Und unterjocht die Freiheit weit und breit,

Den stillen Bürger schreckt der Großen Neid,

Willkür und Selbstsucht herrscht im Vaterlande.

Hier kann wohl nie dereinst mein Glück erblühen,

Wol nie mein Muth in diesen Fesseln glühen,

Drum will ich diesem schnöden Land’ entfliehen.

Gott gab der Reiche viel auf dieser Erde,

Er wandelt auch in Freude die Beschwerde,

Drum lodre meine Glut auf fremdem Herde.

Das klingt enttäuscht und verzweifelt. Verzweiflung darüber, dass einem das Vaterland, die Heimat abhandenkommt, weil politische Verhältnisse einem die Luft zum Atmen nehmen. Es klingt danach, dass einem das Vaterland vermiest wird.

So und so ähnlich fühlen sich gerade viele Menschen in der Türkei. Viele bleiben verzweifelt im Land und hoffen, auf bessere Verhältnisse, andere müssen fliehen, weil sie sonst im Gefängnis landen würden. Viele sind im Gefängnis, weil sie mit der Politik der Regierung nicht einverstanden sind, weil sie eine andere Meinung zu viele Themen haben, als die APK und Erdogan.

Aus der sogenannten Fremde blicken sie auf das Vaterland bzw. im türkischen sagt man Mutterland Türkei und hoffen, dass sie irgendwann wieder zurückkehren können, zurückkehren in ihre Heimat.

Manche, die ich gesprochen habe und kenne sagen, dass sie nicht mehr daran glauben, dass sie die Türkei jemals wieder betreten können. Jedenfalls nicht in diesem Leben.

1761 schrieb der deutsche Schriftsteller und Aufklärer Thomas Abbt: „Die Stimme des Vaterlandes kann nicht mehr erschallen, wenn einmal die Luft der Freiheit entzogen ist. Wenn mich die Geburt oder meine freie Entschließung mit einem Staate vereinigen, dessen heilsamen Gesetzen ich mich unterwerfe, Gesetzen, die mir nicht mehr von meiner Freiheit entziehen, als zum Besten des ganzen Staates nötig ist, als dann nenne ich diesen Staat mein Vaterland.“

Ohne Luft zum Atmen können wir nicht leben. Ein Leben ohne Freiheit ist kein menschenwürdiges Leben. Die Türkei ist eines der vielen Paradebeispiele, wie dem Bürger und der Bürgerin Freiheiten entzogen und damit die Luft zum Atmen genommen werden kann.

Natürlich sehen nicht alle Menschen in der Türkei das so. Auch viele Menschen aus der Türkei, die in Deutschland leben sehen das nicht so, wie ich das gerade beschrieben habe. Sie sind der Ansicht, dass die Politik der AKP und des Herrn Erdogan richtig ist.

Als Juristin, Frauen- und Menschenrechtlerin blicke ich mit allergrößter Sorge auf die Entwicklungen in meiner Heimat Türkei.

Die Türkei war niemals ein wirklich demokratischer Rechtsstaat. Wenn Sie jemals eine Chance dazu hatte, sich zu einem demokratischen Rechtsstaat zu entwickeln, dann hat sich das mit den aktuellen Ereignissen in der Türkei und den anstehenden Verfassungsänderungen für die nächsten Jahrzehnte erledigt. Es sei denn, es wird einen brutalen Umsturz dieser Regierung geben. Damit ist aber höchstwahrscheinlich in naher Zukunft nicht zu rechnen.

Was treibt eigentlich sehr viele Menschen aus der Türkei, die in Deutschland leben, dazu, zu einer Verfassungsänderung „Ja“ zu sagen, die zu einer Abschaffung des Rechtstaates und der Demokratie führen wird?

Bei diesen Menschen handelt es sich schlichtweg um Menschen, die hier in der Demokratie frei und selbstbestimmt leben aber nicht realisieren, dass sie es unserer freien rechtstaatlichen Verfassung zu verdanken haben, dass es so ist.

Sie leben hier in Freiheit und haben für die Türkei für die Unfreiheit gestimmt. Sie haben sich für eine Verfassung entschieden, die den Menschen sehr viel mehr an „Freiheit entzieht, als zum Besten des ganzen Staates nötig ist“.

Das Mutterland in der Ferne ist ihnen näher als das Land Deutschland in dem sie leben, weil sie nie angekommen sind in Deutschland. Weil sie sich nie angenommen gefühlt haben in Deutschland. Weil sie vielleicht tatsächlich viel Diskriminierung und Ausgrenzung erlebt haben und erleben.

Aber nicht alle Menschen aus der Türkei, die in Deutschland leben denken so. Nicht alle haben für Erdogan und seine Verfassungsänderung gestimmt.

Es stellt sich also die Frage, warum eine nicht unerhebliche Anzahl von Menschen, die einen Bezug zur Türkei haben, durchaus mit den Lebensverhältnissen in Deutschland zufrieden und glücklich sind, die Freiheiten und Demokratie zu schätzen wissen. Sie reagieren auf Diskriminierung und Rassismus in Deutschland nicht enttäuscht „über Deutschland“, sondern enttäuscht und wütend über Deutsche, die rassistisch und fremdenfeindlich sind. Ebenso wie sie Rassisten in aller Welt ablehnen.

Diese Menschen, die als positive Beispiele für gelungene Integration bezeichnet werden, haben sich meines Erachtens teilweise bewusst und teilweise unbewusst zu Deutschen Verfassungspatrioten entwickelt und besitzen eine transkulturelle Identität.

Verfassungspatriotismus:

Jürgen Habermas sagte 2006 in einem Interview: „Die Kinder und Kindeskinder der ehemaligen Immigranten sind längst ein Teil von uns. Und weil sie es doch nicht sind, stellen sie für die Zivilgesellschaft und nicht nur für den Innenminister eine Herausforderung dar. Es geht darum, die Angehörigen fremder Kulturen und fremder Religionsgemeinschaften gleichzeitig in ihrem Anderssein zu respektieren und in die staatsbürgerliche Solidarität einzubeziehen!“

Dies setzt jedoch voraus, dass sich die Zugezogenen bzw. diejenigen, die sich einbürgern lassen haben auch als Bürger und Bürgerinnen des Landes fühlen, als Staatsbürgerinnen Deutschland empfinden, mit allem, was dazu gehört. Sich für die Vergangenheit des Landes interessieren, sich um die Gegenwart bemühen und sich um die Zukunft des Landes sorgen.

Die von Dolf Sternberger für das geteilte Deutschland entwickelte Idee des Verfassungspatriotismus könnte hierfür ein möglicher Schlüssel sein.

Jürgen Habermas erweiterte die Perspektive auf das wiedervereinte Deutschland und den Staatenbund Europa, schließlich auf eine Weltgemeinschaft – auf eine Gegenwart also, in der nicht mehr ethnisch-kulturelle Gemeinsamkeiten für gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgen. Auch Habermas geht es um die Frage, wie der Einzelne sich als Staatsbürger, als Teil eines solidarischen Gemeinwesens empfinden kann, für das er aktiv Verantwortung übernimmt. Auch ihm zufolge geschieht dies durch die Identifikation des Einzelnen mit den freiheitlich-demokratischen Werten und Gesetzen des Staates, den jener als Teil des souveränen Volkes mitgestaltet. Habermas zufolge ist die Verpflichtung zur Verfassung die einzige legitime Quelle einer kollektiven Identität der Bürgerschaft.

Hoffmann von Fallersleben hatte die Vision von einer deutschen Nation, die sich zu seinen Lebzeiten tatsächlich herausbildete. Nun steht der Begriff Nation eher im Gegensatz zum Verfassungspatriotismus für den ich eher werben möchte. Einer Idee, unter der ich mir ein gutes Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft vorstellen kann. Sofern jede und jeder sich der staatsbürgerlichen Pflichten bewusst ist und diesen sich unterwirft. Selbstverständlich bedeutet das nicht, keine Kritik zu üben. Im Gegenteil. Eine gesunde Zivilgesellschaft braucht gesunden zivilen Ungehorsam.

Hoffmann von Fallersleben war ein Paradebeispiel dafür, unter anderem auch mit seinen „unpolitischen Lieder“, die er so nannte, um nicht Opfer politischer Verfolgung zu werden, sind ein Paradebeispiel dafür. Natürlich hat der Titel ihn nicht schützen können. Dennoch war es eine geniale Idee des Protestes gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Er war kein Untertan, der seinen Verstand der Krone oder Politik überließ. Er gilt als Querkopf, als unbequemer Professor und Fragesteller. Sein Leben lang war er eine unangepasste Persönlichkeit, was sich in seinen Werken, so auch in seinen Gedichten niederließ.

Zufriedenheit ist ein Vergnügen,

Das kann Philistern nur genügen –

Ich lieb auf Erden Kampf und Streit.

(…)

Drum will ich bleiben und unzufrieden,

Will kämpfen, kämpfen stets hienieden,

Ich kämpfe mit dem Tode noch!

Hier spricht jemand gegen die Bequemlichkeit das Wort und für Eigenverantwortung. Zurecht!

Ein Weg dahin ist Bildung.

Bildung bringt den meisten Menschen Freiheit, Freiheit des Denkens und Handelns. Bildung verschafft Respekt und Achtung. Bildung bietet Chancen, die sich einem ungebildeten Menschen niemals eröffnen würden. Nur derjenige kann sich kritisch mit sich und seiner Umwelt auseinandersetzen, der über eine umfangreiche Bildung verfügt-womit natürlich nicht nur die Schulbildung oder akademische Bildung gemeint ist.

Ich bin fest davon überzeugt, dass allein derjenige, der Bildung aufgeschlossen gegenübersteht und bereit ist, sich geistig zu bewegen, sich weiter entwickeln kann.

Es gibt einen nicht zu leugnenden Zusammenhang zwischen Bildungsgrad und Fundamentalismus. Menschen mit geringer Bildung stehen meist Traditionen und Wertvorstellungen ihrer Kultur und Religion sehr viel unwissender und unkritischer gegenüber als Gebildete. Im schlimmsten Fall führt der Mangel an Bildung sogar zur bedingungslosen Übernahme von Praktiken, die in offensichtlicher Weise Menschenrechte missachten.

Theodor W. Adorno schreibt in seinem Buch „Erziehung zur Mündigkeit“

„Menschen, die sich blind in kollektive einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus. Dazu passt die Bereitschaft, andere als amorphe Masse zu behandeln. Eine Demokratie, die nicht nur funktionieren, sondern ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. Man kann sich verwirklichte Demokratie nur als Gesellschaft von Mündigen vorstellen. Die Konkretisierung der Mündigkeit besteht darin, dass die paar Menschen, die dazu gesonnen sind, mit aller Energie darauf hinwirken, dass die Erziehung eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand ist.“

Hier wird deutlich, dass Bildung nicht allein die Weitergabe von Wissen ist, sondern die Weitergabe einer Haltung.

Bildung bedeutet, Fragen zu stellen, Dinge in Zweifel zu ziehen und Antworten zu suchen. Bildung bedeutet zu streiten und aus anderen Meinungen zu lernen, Bildung bedeutet zuzuhören und Positionen zu überdenken. Bildung bedeutet eine intellektuelle Auseinandersetzung mit sich und seiner Umgebung.

Eine alte türkische Weisheit sagt: „Du musst dich nicht dafür schämen, dass du etwas nicht weißt, schäme dich lediglich dafür, dass du nichts lernst.“ Natürlich muss man auch eine Chance haben, etwas zu lernen. In vielen Gesellschaften ist Bildung nach wie vor ein Privileg der Reichen und der männlichen Bevölkerung. Nicht überall auf der Welt können Kinder ihre Schule gut und einfach erreichen.

Malala aus Pakistan wird Ihnen allen ein Begriff sein. Sie bekam zu Recht im Jahre 2014 den Friedensnobelpreis. Malala war zehn Jahre alt, als die Taliban die Macht in Pakistan übernahmen. Mädchen sollten von nun an nicht mehr zur Schule gehen. Doch Malala ließ sich nicht einschüchtern. Sie beschloss, für ihr Recht auf Bildung zu kämpfen. Am 9. Oktober 2012 schossen ihr Terroristen in den Kopf, als sie auf dem Weg von der Schule nach Hause war. Sie hat diesen Anschlag schwer verletzt überlebt. Aufgegeben hat sie nicht. Ganz im Gegenteil sie ist zu einer internationalen Symbolfigur für den Frieden geworden und zu einem Vorbild vieler Jugendlicher auf der ganzen Welt.

Ihre Autobiografie widmete sie „allen Kindern auf der ganzen Welt, die nicht in die Schule gehen können. Für alle Lehrer, die trotz großer Widerstände den Mut haben, zu unterrichten. Und für alle, die für ihre Menschenrechte und ihr Recht auf Bildung kämpfen.“

Nach wie vor sind vor allem Mädchen, mehr als 54%, in dieser Welt von Bildung ausgeschlossen. Ihnen wird zuteilen abgesprochen, dass sie über einen Verstand und Vernunft verfügen, aus traditionellen oder religiösen Gründen wird ihnen Bildung verwehrt.

Denn Wissen ist Macht und führt zur Veränderung von Gesellschaften. Vor allem auch der Geschlechterverhältnisse. Das ist z.B. nicht im Sinne von islamistischen Terroristen, die einen islamistischen Staat geründet haben.

Durch die Aufklärung haben die Menschen im sogenannten Westen angefangen ihren Verstand zu nutzen und Verantwortung für ihr Handeln oder nicht Handeln zu tragen. Zumindest in weiten Teilen.

Wobei immer wieder zu unterstreichen ist, das Wissen nicht nur Vermittlung von Wissensinhalten, sondern auch von Werten ist, wie wir z.B. zusammenleben wollen.

So antwortete Kant auf die Frage Was ist Aufklärung? Wie folgt:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

……

„Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür Sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperrten, wagen durften; so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen allein zu gehen. „….

 

Ein Appell an alle Menschen sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und ein Appell an die Frauen, sich nicht einschüchtern zu lassen.

Niemals zufrieden sein, schreibt Hoffmann kämpfen und streiten, natürlich nicht ohne Sinn und Verstand. Kämpfen auch gegen den Tod. Ein Taliban hat versucht, das Kind Malala, sie war 15, die Kämpferin für Bildung auch für Mädchen zu töten. Ein Erwachsener Mann schoss auf drei Schulmädchen.

Malala schreibt dazu:

„Wie groß ist Gott! Er hat uns Augen geschenkt, um die Schönheit der Welt zu sehen, Hände, um sie zu berühren, eine Nase, um ihren Duft zu riechen, und ein Herz, um für all das dankbar zu sein. Aber wir wissen nicht, wie wunderbar unsere Sinne sind, bis wir einen verlieren. Die Rückkehr meines Gehörs war einfach ein Wunder. Ein Taliban hatte in blinder Wut drei Schüsse auf drei Mädchen in einem Bus abgefeuert – und keine von uns war getötet worden. Eine Person hatte versucht, mich zum Schweigen zu bringen. Und jetzt erhoben sich Millionen Stimmen. Auch das war ein Wunder.“

Die Mehrheit der Muslime hat leider noch große Probleme damit, Musliminnen und Muslime, Frauen und Männer als gleichberechtigt anzusehen. Und dabei geht es nicht nur um z.B. Saudi-Arabien oder den Iran. Sondern auch um Muslime, die seit Jahrzehnten in Europa leben oder neu nach Europa kommen.

Nicht selten ist von Muslimen zu hören, „Ja, wir leben in Europa. Das heißt aber noch lange nicht, dass meine Tochter leben darf wie eine westliche Frau“.

Damit ist ohne Umschweife gemeint, dass westliche Frauen als zu freizügig und sexuell verkommen angesehen werden. Freies selbstbestimmtes Leben wird als Leben wie eine „Hure“ bewertet.

Dieses schiefe Bild, dass manche Muslime und Musliminnen von westlichen Frauen haben, ist nicht weniger gefährlich und abzulehnen, wie Vorurteile über Musliminnen. Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau, damit einhergehend die Tatsache, dass junge Frauen selbst darüber entscheiden, ob sie als Jungfrau in die Ehe gehen wollen oder nicht ist eines der größten Hürden, die die muslimische Weltengemeinschaft auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter nehmen muss.

Daher herrschen in den sogenannten konservativen muslimischen Parallelgesellschaften nach wie vor archaisch-patriarchalen Strukturen. Viele Familien sind damit beschäftigt ihre Kinder, in erster Linie ihre Töchter, vor dem bösen, unmoralischen und verkommenen Westen zu schützen, damit sie keinen Sex vor der Ehe haben. Ihren Jungs hingegen empfehlen die meisten Eltern Erfahrungen zu sammeln.

Zwangsheirat, Kinderehen und Ehrenmorde sind nach wie vor nicht ausgerottet. Mit den Flüchtlingen kommen neue Probleme hinzu, wie z.B. Kinderehen. Die meisten jungen Flüchtlinge haben noch nie zuvor so viele junge Frauen gesehen, die sich öffentlich so freizügig kleiden und bewegen.

Es wird nicht einfacher. Nur weil es Flüchtlinge sind und keine Gastarbeiter.

Die Zukunft Europas ist nicht mehr ohne die Muslime denkbar. Aus diesem Grunde würde Europa gut daran tun, sich mit dem Thema Islam in Europa intensiver und ehrlicher zu beschäftigen.

Welcher Islam ist tatsächlich noch von der Religionsfreiheit gedeckt? Wo begeht Europa einen Verrat an den eigenen Idealen im Bezug auf die AEMR und den Errungenschaften der Frauenbewegungen?

All das sollte Europa in einer europäischen Islamkonferenz, unter Einbeziehung von allen Vertreterinnen des Islam, also konservative Verbänden und muslimischen/bzw. islamischen Feministinnen lösen. Die Einberufung einer solchen Konferenz ist längst überfällig. National wird die Integration des Islam in Europa nicht zu lösen sein. Im Gegenteil. Wenn Europa sich gegen einen immer stärker werdenden politischen, frauenfeindlichen Islam erwehren will, dann geht das nur gemeinsam.

In diesem Sinne wünsche ich mir als Verfassungspatriotin und Europäerin mehr Weitsicht von einer Europapolitik.

Doch ich fordere natürlich nicht nur etwas von anderen, z.B. von der Politik, sondern trage meinen Anteil dazu bei, dass sich etwas zum Positiven verändert.

Ich war von 2006 – 2009 Mitglied der deutschen Islamkonferenz. Das Ergebnis für mich persönlich war, dass wir säkularen Muslime eine Moschee und einen eigenen Dachverband gründen müssen, um als Ansprechpartner für die Politik zur Verfügung zu stehen.

Diese Idee habe ich 8 Jahre verfolgt und an der Realisierung gearbeitet. Jetzt ist es geschafft. Wir eröffnen am 16.06.2017 die Ibn Rushd – Goethe Moschee. Benannt nach zwei Brückenbauern in Sachen Islam, in Sachen Verbindung des Orients mit dem Okzident. Ibn Rushd war einer der wichtigsten Aufklärer im Islam, im Westen bekannt als Averroes war er der großartige Kommentator von Aristoteles und Goethe, den ich wie folgt aus seinem West-östlichen Divan zitieren möchte

 

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord-und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

 

Man muss sich von diesem Vierzeiler nicht abwenden, weil man nicht an Gott glaubt. Denn der Inhalt ist nicht nur an gläubige Menschen gerichtet. Die Aufforderung unsere Welt als eine Welt zu sehen richtet sich an alle Menschen. Das ist die positive Herausforderung der Globalisierung. Dies ist der Weg zum Weltfrieden.

Zum Abschluss möchte ich Ihnen die Präambel unserer Moschee vorlesen, damit Sie wissen, für welchen Zweck Sie gespendet haben.

 

Ibn Rushd und Goethe Moschee gGmbH

Präambel

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes, der den Menschen in seiner Vielfalt geschaffen hat, soll die Gesellschaft dazu beitragen, das Zusammenleben von Menschen islamischen Glaubens in Deutschland nach den Regeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen und des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland zu gestalten. Dabei sollen nicht nur Männer und Frauen, sondern auch die verschiedenen Richtungen des Islam, wie Sunniten, Schiiten, Aleviten und andere Ausrichtungen des Islam, sowie Menschen aller sexuellen Orientierungen und Identitäten, in allen Beziehungen vollkommen gleichberechtigt sein.

Religiöse Grundlage des Vereins ist ein säkularer liberaler Islam, der weltliche und religiöse Macht (din wa daula) voneinander trennt und sich um eine zeitgemäße und geschlechtergerechte Auslegung des Koran und der Hadithen bemüht.

Die Gesellschaft sieht sich darin in der Tradition historischer Vordenker eines liberalen, aufgeklärten Islam wie RUMI (Mevlana) und Ibn Rushd. Deren Lehren basieren auf der Liebe als die Hauptkraft des Universums, aber auch der Vernunft und Eigenverantwortung. Folgender Vers wird RUMI (Mevlana) zugeschrieben:

 

Komm! Komm! Wer du auch bist!

Wenn du auch Götzendiener oder Feueranbeter bist. Komm wieder!

Dies ist die Tür der Hoffnung nicht der Hoffnungslosigkeit.

Auch wenn du Tausendmal dein Versprechen gebrochen hast. Komm! Komm wieder!,

 

Ferner stammen von ihm 7 Ratschläge, denen wir uns verpflichten wollen,

Die 7 Ratschläge von RUMI (Mevlana) lauten:

  1. Sei großzügig und hilfsbereit wie ein Fluss
  2. Sei mitleidig und barmherzig wie die Sonne
  3. Sei wie die Nacht beim bedecken der Fehler anderer
  4. Sei wie ein Toter bei Wut und Erregung
  5. Sei bescheiden und schlicht wie die Erde
  6. Sei wie das Meer vergebend und nachsichtig
  7. Entweder zeig Dich wie du bist, oder sei so wie du Dich zeigst

Darüber hinaus sollen den Lehren von Gläubigen, Sufis und anderen islamischen Gelehrten, die sich für Toleranz und Frieden unter Andersdenkenden eingesetzt haben, eine Plattform geschaffen werden.

Namhafte islamische Gelehrte standen mit ihrem Leben und ihrem Wirken für den Brückenschlag zwischen Islam und Aufklärung, bemühten sich stets um Toleranz und Weltfrieden. Nicht zu vergessen der großartige Johann Wolfgang Goethe. Ein Dichter und Denker, der im Islam die Liebe zur Natur und Gott in der Natur entdeckte.

Gerade in diesen Zeiten des 21. Jahrhunderts, in denen der Islam immer mehr nur mit Terror in Verbindung gebracht wird, sehen wir es als unsere Aufgabe an, aufzuzeigen, dass der Islam selbstverständlich mit Demokratie vereinbar ist.

Uns ist es ein besonderes Anliegen, unsere Kinder zu toleranten und offenen Menschen zu erziehen, die anderen Menschen mit Liebe, Neugier und Verständnis begegnen. In diesem Sinne soll unsere Moschee ein Ort der Vielfalt sein, wo Liebe und der Glaube an den liebenden und barmherzigen Gott uns vereint.

Selbstverständlich stehen unsere Türen auch denen offen, die sich zum Monotheismus (Judentum und Christentum) bekennen, denen, die an andere Götter glauben, und auch denen, die an keinen Gott glauben, um mit uns in den Dialog zu treten. Der Glaube an Gott, der alles erschaffen hat, schließt das unserer Ansicht nach mit ein.

  • 1 Name und Sitz

(1) Der Name der Gesellschaft lautet: Ibn Rushd – Goethe Moschee gGmbH.

(2) Die Gesellschaft hat ihren Sitz in Berlin.

Ich bedanke mich noch einmal für die Ehre, die mir heute Zuteil wird. Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich wünsche uns allen einen schönen 1. Mai.