5. Rede: Wolf Biermann

5. Rede: Wolf Biermann

Wolf Biermann

5. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2006

am Montag, dem 1. Mai 2006, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey

Geht es nicht auch Ihnen so? Ein kleine Landschaftsmalerei, irgendeine Novelle, ein Spottgedicht, ein Franz-Schubert-Lied, ein jazziger Song, ein schnulziger Schlager oder ein sentimentales Chansons – alles, was man in einer längst vergangenen Lebenszeit in sich aufgenommen und verinnerlicht hat, dann aber scheinbar vergessen hatte – dieses eine bestimmte Kitsch­oder Kunstwerk – egal! – es verknüpft sich sentimental mit diesen und jenen Glücksmomenten, mit den positiven Gefühlen, mit bestimmten Menschen aus einer längst verflossenen Zeit. Wie das Signal der Klingel beim Pawlowschen Hund die Bauchspeicheldrüse zur Sekretion animiert, so sondert des alten Wolfes Hirn ein Glückshormon ab, wenn der richtige Ton erklingt. So kommt es also, daß ich ausgerechnet bei dem banalen Schlager „Der alte Seemann kann nachts nicht schlafen…“ an meine allererste Freundin Ina M. denken muß in Gadebusch, an Ihre dunklen Schattenmorellen: die melancholisch umschatteten Augen. Ich sehe vor mir das heilignüchterne Liebespaar im Internat, dessen Hälfte ich selber war. Ich rieche den Duft des Lachens meiner Schönen, wenn im Radio zufällig die alte Weise gesendet wird, die damals aus dem Radio plärrte, als ich so selig die Flügel ihrer Augenbrauen küßte und meine kecke Zunge vom großen Rot ihrer Lippen bis rüber wanderte zum Ohrläppchen mit dem kleinen Rubin.

Diese Erinnerungsautomatik funktioniert auch im Negativen. Und so kommen wir gleich zu Hoffmann von Fallersleben. Ich will Ihnen etwas Spezielles zur Wirkungsgeschichte seines allergrößten Hits liefern, denn alles Andere kennen Sie längst und besser als ich. Sie kennen die Legende aus dem Kriegsbericht der deutschen Heeresleitung vom 11. November 1914 über die Jünglinge, die für ihren Kaiser Wilhelm bei Langenmarck in die Schlacht ziehen, um zu schlachten und abgeschlachtet zu werden, mit Hoffmanns Lied auf den Lippen:

„Westlich Langenmarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange „Deutschland, Deutschland über alles“ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie“… Friedrich Ebert 1922, als er Hoffmanns Lied zur Nationalhymne der Weimarer Republik machte. Zum Deutschlandlied der Nazis werde ich Ihnen gleich ein kleines politisches Sittenbild zeichnen. Dann 1952 das politische Geschäft zwischen Adenauer und Heuß, als sie die dritte Strophe des verbotenen Liedes für uns retteten: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland … Dann 1954 die Schlachtenbummler beim Wunder von Bern, als sie gröhlten: Deutschland, Deutschland, Deutschlands Fußball über alles in der Welt … dann der Zusammenbruch des Ostblocks, als Bundespräsident Weizsäcker und Kanzler Kohl im August 1991 die beste Strophe in Hoffmanns Lied ein für alle mal zur Hymne der wiedervereinigten Deutschen machten …

Ich weiß ja: all solche historisch gewordenen Klingeltöne provozieren bei uns allen sehr verschiedene pawlowsche Reflexe: Speichel wird abgesondert, Schaum vor dem Mund, Angstschweiß, Galle der Wut und womöglich Tränen der Scham. Das Hin- und Her um dieses Lied der Deutschen setze ich bei Ihnen hier als bekannt voraus. Wer wollte schon Hoffmann von Fallersleben nach Höxter tragen – wie Eulen nach Athen!

Ein Kuriosum, das manche gar nicht kennen: Hoffmann schrieb ausgerechnet sein heikles Schicksalslied der Deutschen im Ausland, fern der Heimat, 1841 im Urlaub auf der damals noch britischen Fischer-Insel Helgoland. Umtost von den Wellen der Nordsee dichtete er diese so ideal mißbrauchbare Zeile „Deutschland Deutschland über alles …“ und er verkaufte seinen frischen Fang direkt am helgoländer Strand für französisches Geld an seiner Hamburger Verleger Campe.

Erst viele Jahre Jahre nach Hoffmanns Tod, 1890, tauschte der Kaiser Wilhelm einen Teil seines Kolonialbesitzes in Deutsch-Ostafrika, die Insel Sansibar, gegen die strategisch wichtige Festung Helgoland, den roten Felsen vor der deutschen Küste.

Wir sitzen hier nicht in einem Kursus der Volkshochschule. Also fange ich mit diesem Stück Weltgeschichte klein klein an, so extrem privat, daß es mir selber schon peinlich wird. Und peinlich muß es doch sein, wenn Sie und auch ich etwas davon haben wollen. Sowas vergessen wir manchmal: das Wort „peinlich“ bedeutet ja nichts anderes als schmerzhaft. Und wenn sie radikal wahrhaftig ist, dann tut die Wahrheit eben manchmal weh.

Ich kann mich genau daran erinnern: Es passierte mir im Sommer 1936. Da schwamm ich noch selig im Fruchtwasser meiner Mutter Emma Biermann, also im bequem gewölbten Bauch, in einer Phase der Schwangerschaft, als er sich noch nicht gesenkt hatte. Es könnte also im Altweibersommer gewesen sein, und ich war schon im sechsten Monat.

Mein Vater Dagobert hatte als Kommunist grade eine zweijährige Haftstrafe im gefürchteten Zuchthaus Fuhlsbüttel abgesessen. Er war also seit einem knappen Jahr raus aus dem Naziknast und wieder drin im normalen Arbeitsleben. Er war wieder eingestellt worden von der Werft Blohm & Voß. Dort wurde in dieser Zeit das Kraft-durch-Freude-Schiff „Wilhelm Gustloff“ gebaut und der KdF-Luxusdampfer „Horst Wessel“. Mein Vater war ein hochkarätiger Schlosser-Maschinenbauer und spezialisiert auf die Wartung der elektrischen Laufkatzen, die über die Stahlseile der Hellige immerzu hin und her fahren. Mit dieser Kran-Technik wurden, damals, die schweren Eisenteile für die Schiffsbauer von oben herunter gelassen, genau dorthin über dem wachsenden Schiffsrumpf, wo dann die Nieter mit ihren schweren Hämmern die hell glühenden Nieten platt schlugen und so die vorgeformten Stahlteile zusammenfügten.

Da über die Wochentage ununterbrochen im Schichtsystem gearbeitet wurde, standen nur am Wochenende diese Laufkatzen nicht unter Strom, sodaß anfällige Reparaturen am Sonntag von einer Kolonne Spezialisten erledigt wurden.

Es war also ein sonniger Sonntagabend, als mein Vater mit vielleicht fünf seiner Schiffsbauer von der Sonderschicht kam. Ein befreundeter Barkassenführer hatte die kleine Gruppe mit seinem Schiffchen nicht nur rüber über den Fluß zu den Landungsbrücken Sankt Pauli gebracht, sondern war ein paar Minuten extra elbabwärts geschippert. In Höhe des Biergartens der großen Brauerei am Elbhang hinter Teufelsbrück ließ er am schwimmenden Anleger die Kumpel an Land.

Die Gruppe der Werftarbeiter setzte sich also an einen freien Tisch am Rande dieses großen Biergartens, der an diesem Sonntag gerammelt voll war mit hanseatischen Herrschaften, alle im vollen Wichs: Offiziere in Uniform, aufgetakelte Damen und ordengebeugte Veteranen des 1. Weltkriegs, nun in Zivil schön geschniegelt gebügelt im dunklen Sonntagsstaat, die Würdigsten noch mit Zylinder. Der Slogan „GEBT UNS UNSERE KOLONIEN WIEDER!“ stand als girlandenumkränzte Losung über der Veranstaltung. Es war also ein Traditions-Treffen des deutschnationalen Kolonialvereins.

Alte schwarzweißrote Kriegsflaggen des Kaiserreichs schmückten das Areal, bunt gemischt mit den moderneren Hakenkreuzfahnen. Ein Redner feuerte Wortsalven in die Menge. Die Kellnerin brachte jedem der Arbeiter ein Bier und meiner Mutter eine grünprickelnde Waldmeister-Brause. Die Gläser der kleinen Gruppe waren noch halb voll, als nun zum Abschluß der Feierlichkeiten das obligate Deutschlandlied geschmettert wurde. Die Gesellschaft erhob sich von den Gartenstühlen, Frauen wie Männer rissen den Arm hoch zum Hitler-Gruß. Auch die Kollegen meines Vaters lüfteten im Reflex ihren Hintern vom Stuhl. Als sie aber bemerkten, daß ihr kleiner Chef sturstolz sitzen blieb, verharrten sie für einen Moment in dieser Bewegung … und … setzten sich dann, einer nach dem anderen, mehr oder weniger zögerlich, wieder hin. Es war – was Wunder! – eine wacklige Situation. Es ist klar, daß diese Arbeiter wissen mußten, daß mein Vater grade als Politischer aus einer Zelle in Fuhlsbüttel gekommen war. Unter diesem moralischen Druck schämten sie sich. Aber vor dem Terror der Nazis mußten sie sich fürchten. Die Scham war offenbar bei diesen Hamburgern, gut zwei Jahre nach der Machtergreifung, immer noch etwas größer als ihre Angst. Also blieben sie alle sitzen. „Deutschland Deutschland über alles …“ – sofort stürzte ein Herr an ihren Tisch und schnarrte: „Wollen Sie gefälligst der Deutschen Hymne die Ehre erweisen!!“ – Mein Vater schnarrte im nachgeäfften Offizierston zurück: „Stören Sie gefälligst nicht die Zeremonie!! Das regeln wir noch!!!“ Der Herr verließ verwirrt den Tisch. Im Nu griffen die Sitzengebliebenen nach ihren Gläsern und kippten sich den Rest in den Hals. Dann legten sie die Zeche für das Bier auf den Tisch. Als nach dem Deutschlandlied, wie es zur Regel geworden war, das Horst Wessel-Lied mit allen Strophen abgesungen wurde, verließ die kleine Gruppe das Lokal.

Die Fahne hoch!

Die Reihen dicht geschlossen!

SA marschiert

Mit ruhig festem Schritt

Kam’raden, die Rotfront

Und Reaktion erschossen,

Marschier’n im Geist

In unser’n Reihen mit

Mit schmalem Hintern verdrückten die Werftarbeiter sich so schnell wie möglich, aber auch so unauffällig langsam wie nötig – bloß raus auf die Elbchaussee! Aber als sie um die erste Ecke waren, rannten sie in panischer Angst hemmungslos davon. Meine Mutter keuchte hinterher, immer an der Hand meines Vaters. Und ich? Mich schaukelte es wild hin und her in meiner dunklen Höhle.

Als ich dann schon drei Monate alt war, wurde mein lieber Vater wieder verhaftet. Dieses zweite mal war es ernster. Ein Gestapospitzel hatte es geschafft, sich als Antifaschist einzuschleichen, die Widerstandsgruppe flog auf. Die Anklage dann vorm Volksgerichtshof: Hochverrat und Landesverrat.

Und das war die Straftat: Die kleine Widerstandsgruppe hatte im Hamburger Hafen die Waffenschiffe ausspioniert, mit denen Nazi-Deutschland, getarnt als Friedensfracht, heimlich Kriegsmaterial verschiffte, Nachschub für Generalfeldmarschall Görings LEGION CONDOR im Spanischen Bürgerkrieg. Der Hauptangeklagte, der jüdische Rechtsanwalt Dr. Michaelis, der auf den Spitzel hereingefallen war, wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Mein Vater, dem zum Glück nichts nachgewiesen werden konnte, kam mit sechs Jahren Zuchthaus davon.

Und was kann Hoffmann von Fallersleben dafür? Was überhaupt geht all dies den Dichter an, der im Jahre 1860 eine Anstellung als Bibliothekar beim Herzog von Ratibor in Corvey annahm? Gar nichts! Er kann nichts dafür, aber ich, halten zu Gnaden, auch nicht! Und das ist mein Problem.

Ich hörte in den folgenden Jahren das leidige Deutschlandlied zuhaus in der Küche in Hammerbrook, wenn unser Volksempfänger, genannt „Goebbelsschnauze“, die erste Strophe der Nationalhymne sendete. So was atmet ein Kind ein wie schlechte Luft, ohne groß darüber nachzudenken. Aber an eine herzzerreißende Szene kann ich mich scharf erinnern. Es muß kurz vor dem großen Bombenangriff der Allierten im Juli 1943 gewesen sein. Da war ich schon sechs Jahre alt. Ich lief in Hamburg an der Hand meiner Mutter über die Mönckebergstraße. Vom Hauptbahnhof her überholte uns eine bombastische Marschkolonne mit Tschingdara-Bumm-Bumm. Die Masse formierte sich dann auf dem Adolf-Hitler-Platz vor dem Rathaus und spielte das Deutschland-Deutschland-über-alles-Lied unter dem Fahnenwald. Die Leute drängten sich nach vorne zur Musik, ein einzig Volk aus Heil-Hiter-Gruß-Menschen. Wir standen abseits. Meine Mutter hielt mich an der Hand, mit der Rechten? Plötzlich kam von der Seite ein uniformierter Mann vorbeigeprescht. Er riß mir wortlos die Hand meiner Mama weg und zerrte ihr den Arm hoch zum Hitlergruß, und dabei trat er sie schnell noch pädagogisch in den Hintern und rannte weiter. Es hatte was kindergrausam Spielerisches. Ich weiß nicht mehr, ob sie den Arm dann oben ließ. Aber ich weiß noch den Seelenton, weiß die Bilder, das Gesicht meiner Mama – Sie verstehen: ein irrer Filmfetzen in meinem Gedächtnis.

Und Sie haben längst und gut verstanden: aus der Perspektive meines Lebens kann das berühmteste Lied des Dichters Hoffmann von Fallersleben nichts Gutes, nichts Angenehmes bedeuten. Und darum könnte ich nicht sagen wie Heinrich Heine: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“ Nein, ich weiß in diesem Punkte ganz gut, warum ich so traurig bin, wenn ich dieses Lied höre mit seiner genialen und wunderschönen Melodei von Joseph Haydn.

Sogar dann, wenn ich nur das nackte Kaiser-Quartett höre, ist mir zum Kotzen und zum Fluchen und zum Weinen. Denn ich muß dabei an meine Großeltern John und Louise Biermann denken, an meine Onkels und Tanten und Cousins und Cousinen. Sie alle, ohne eine einzige Ausnahme, wurden im November 1941 von der Moorweide am Bahnhof Dammtor nahe der Alster in Eisenbahnwaggons nach Minsk deportiert in das Juden-Ghetto und dann dort im Stadtwald in die Grube geschossen.

Nein, nein, nein! – der mißbrauchte Dichter ist ohne Schuld. Und ich weiß so gut wie Sie hier, daß der Autor des mir so tief verhaßten Liedes nicht nur kein Vorläufer der Nazis war, sondern ganz im Gegenteil: sogar ein radikaler Demokrat. Und nebenbei gesagt: Der Dichter war auch ein anrührend schlechter Geschäftsmann. Denn er verkaufte seinem Verleger Campe den Deutschland-Hit für nur wenig mehr als ´n Ei und ´n Butterbrot: für vier Louisdor, die französischen Goldmünzen. Sie sehen: Es gab schon damals eine Art europäischer Währungsunion

Wie schuldlos der Verseschmied Hoffmann in Bezug auf den Mißbrauch seines Liedes ist, beweist auch die Tatsache, daß in der Nazizeit nur die erste Strophe erlaubt war, die zweite unerwünscht und die dritte über „Einigkeit und Recht und Freiheit …“ sogar verboten. Und daß Hoffmann nicht Deutschland chauvinistisch oder sogar kriegerisch über alle anderen Länder erheben wollte, sondern einzig über die vielen feudalen Deutschländerchen, versteht sich.

Hoffmann von Fallersleben schrieb damals mit all seinen Kräften an gegen die Zerstückelung seines Vaterlandes, in einer Zeit zudem, als die aufreizend nahen Konkurrenten Frankreich und England schon starke moderne Nationalstaaten waren. Der Poet und Literatur-Professor Hoffmann von Fallersleben dichtete tapfer an gegen all die deutschen Fürstchen und sonstige Despoten. Und er hat auch ehrlich dafür bezahlt. Er verlor seine Professur an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Breslau und wurde aus dem Königreich Preußen ausgebürgert. Der Grund: seine demokratische und liberale Gesinnung, also seine hochpolitischen Ansichten in den hochpolitischen „Unpolitischen Liedern“ der Jahre 1840 / 41. Und wo wurden diese Verse gedruckt? Bei Heinrich Heines Verlag Hoffmann und Campe, der drei Jahre später „Deutschland. Ein Wintermärchen“ auf den Markt warf.

Hoffmanns Zeitgenosse Heinrich Heine schrieb 1851 in der Matratzengruft im Pariser Exil sein berühmtes Gedicht „Enfant Perdu“. Dort nennt Heine sich selbst einen Soldaten, der trotz seiner blutenden Wunden treu Posten steht im Freiheitskrieg. Und ich sehe neben dem Freiheitssoldaten Heine genau so zuverlässig den Hoffmann von Fallersleben Wache stehen. Bei dieser Gelegenheit fällt mir natürlich ein, wie gemein der rotzfreche Heine seinen etwas tümlicheren Kameraden Hoffmann verspottete. Heine nannte den Dichter Hoffmann einen Brutus, der dem Cäsar aber nicht etwa als Tyrannenmörder den Dolch in den Rücken haut, sondern ihm stattdessen grausam beißenden Läuse in den Pelz setzt:

[AN HOFFMANN VON FALLERSLEBEN]

O Hoffmann, deutscher Brutus, Wie bist du mutig und kühn, Du setzest Läuse den Fürsten In den Pelz, in den Hermelin.

Und wen es juckt, der kratzt sich, Sie kratzen sich endlich tot,

Die sechsunddreißig Tyrannen, Und es endigt sich unsere Not.

O Hoffmann, deutscher Brutus, Von Fallersleben genannt, 

Mit deinem Ungeziefer

Befreist du uns das Land.

Diese Spottverse vom Heine – vom Olymp herab gespuckt – sind aber doch – leider! – wahr. Denn aus der Sicht Heinrich Heines waren die kunst­gehandwerkelten Verse seines Kollegen Hoffmann von Fallersleben eben keine Dolche, keine Schwerter, Hoffmanns politisch aufmüpfige Pasquille waren keine Löwen im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, sondern … beißende Flöhe. Trotzalledem: Heine erkannte und anerkannte Hoffmann als seinen Mitkämpfer.

Im Poem ATTA TROLL mokierte Heine sich über die „Tendenzdichter“ seiner Zeit, die zwar Lyrik von ‚richtiger‘ Gesinnung produzieren, aber, ästhetisch betrachtet, leider Schund.

Heine dozierte: „Die wahrhaft großen Dichter haben immer die großen Interessen ihrer Zeit anders aufgefaßt als in gereimten Zeitungsartikeln«. Bei solch einem Zitat zucke ich natürlich zusammen und denke: Na, Biermann, Du kleiner DDR-Drachentöter, bist Du nicht auch einer vom Format der Tendenzdichter? Und schlägst Dich jetzt in Höxter selbstgerecht auf die Seite der Welt-Genies? Fragen Sie mich bitte nicht danach, denn über niemanden irrt man sich grotesker als über sich selber.

Hoffmann von Fallersleben kämpfte eben mit den Waffen, die er hatte. Das aber imponiert mir an ihm: Hoffmann verhielt sich tapfer nicht nur gegen die deutschen Despoten, sondern auch gegen all die teutschen Unterthanen, ohne deren Trägheit und Feigheit die verhaßten Fürsten längst ihre Macht verloren hätten. So riß Hoffmann dem Deutschen Michel die Schlafmütze vom Kopf:

Nicht Mord, nicht Bann, nicht Kerker

Und Standrecht obendrein – Es muß noch kommen stärker, Wenn’s soll von   Wirkung sein Ihr müßt zu Bettlern werden, Müßt verhungern allesamt,

Dann, dann vielleicht erwacht noch

In Euch ein neuer Geist,

Der Geist, der über Nacht noch Euch hin zur Freiheit reißt.

Sie hören ja selbst an diesen zusammenknüttelten Versen – Hoffmanns dichterische Kraft entsprach in der Tat mehr dem Maß der reimenden Mitstreiter Herwegh und Freiligrat. Dennoch wollen wir ihn nicht der billigen Lächerlichkeit preisgeben, indem wir ihn messen an großen Menschheitsdichtern wie etwa Goethe, Hölderlin, Heine.

Nein, der oft so spottbillig verspottete Hoffmann – auch er war ein Sänger der Freiheit. Und die Nazis hätten auch einen wie ihn ins Exil gejagt oder totgeschlagen. Also liefere ich Ihnen von nun ab kein Wort mehr zu Hoffmanns Verteidigung, sonst fangen wir alle an, uns zu langweilen.

Wußten Sie übrigens, daß die Nazis sogar den großen Schiller posthum ins Exil trieben? Sie erwiesen ihm die höchste Ehre, die sie zu vergeben hatten: 1933 warfen „Nationale Studenten“ auch Schillers Werke in die Flammen der Bücherverbrennung. Sie schmähten ihn als „undeutsch“. Und folgerichtig wurde 1938 das Schillerdenkmal auf dem Gendarmenmarkt in Berlin entsorgt. Nein, dies war kein Mißverständnis der Nationalsozialisten, denn Schiller schrieb in einem Brief an Christian Gottfried Körner: „Es ist ein armseliges, kleinliches Ideal, für eine Nation zu schreiben; einem philosophischen Geiste ist diese Grenze durchaus unerträglich.“

Das aber kennzeichnet die tragische geschichtliche Konstellation des Hoffmann von Fallersleben: Wenn er mit seinen Versen für den Fortschritt kämpfte, nämlich für ein geeintes Deutschland, dann hinkte er automatisch hinter dem Zustand des avancierten Weltgeistes in Frankreich und England und sogar Russland hinterher. Die größeren Zeitgenossen, etwa der alte Goethe, der gleichaltrige Heine, waren damals schon zwei Schritte weiter. Sie fühlen sich längst als Citoyens der Menschheit à la Jean-Jacques Rousseau und nicht hauptsächlich als patriotische deutsche Gartenzwerge. Aber in diesem Punkte war der kleine Dichter Hoffmann größer als seine Kollegen Großdichter. Geheimrat Goethe war mit seinem Kopf schon europäisch globalisiert und steckte seine Nase in die ganze Gattung Mensch. Mit dem Hintern aber saß er weich und bequem auf dem feudalen Misthaufen in Weimar als geadelter Fürstenknecht seines Herzogs Karl August.

Der brave Hoffmann also tat – so gut es gelang – genau das, was Goethe gelegentlich anderen riet: immer das Nächstliegende anpacken! Man könnte klempnerisch sagen: Der Kunsthandwerker Hoffmann machte den Upperclass-Poeten die notwendige Drecksarbeit.

Dabei will ich Ihnen hier gestehen, daß ich oft neidisch bin auf diesen populären Liederdichter. Meine jüngste Tochter Mollie nämlich (sie kommt nächstes Jahr schon in die Schule) kennt mehr Lieder von diesem Hoffmann als von mir, obwohl sie tagtäglich zu Hause ihren Papa singen hört. Sie kennt jeden Ton und jedes Wort der offenbar unverwüstlichen Kinderschlager des Hoffmann von Fallersleben. Begeistert singt sie das Lied vom Sängerstreit zwischen Kuckuck und Esel. Gewiß, Hoffmann selbst war der Kuckuck , und Heinrich Heine die Nachtigall. Ich, ihr Vater, wäre in diesem Spielchen womöglich der politpoetische Tendenz-Esel.

Meine Mollie also liebt den Dichter der schönsten deutschen Kinderlieder. Mit Entzücken trällert sie das Lied „Alle Vögel sind schon da“. Und auch mitten im Sommer singt sie beseligt „Morgen kommt der Weihnachtsmann…“. Und im Herbst kräht sie: „Winter ade! Scheiden tut weh…“ . Mit dem Vortrag des Hoffmann-Hits „Summ summ summ, Bienchen summ herum …“ beglückt sie Oma und Opa. Der Schlager „Ein Männlein steht im Walde auf einem Bein …“ ist ihre Glanznummer, wenn Freunde zu Besuch sind.

Es sei hier unter uns ein Fußnote zu einem der Kinderlieder geliefert: Das muntere Liedchen von den Vögeln, die im Frühling alle schon wieder da sind, wurde von den Nazis ganz besonders niederträchtig mißbraucht. Mit genau diesem Lied auf den blutig geschlagenen Lippen mußten nach der Machtergreifung 1933 die verhafteten Juden durch die Straßen von Berlin marschieren, und unter dem Gejohle des Packs und unter den Kolbenschlägen der Bewacher ins KZ Dachau… „Alle Vögel sind schon da …“

Wenn im KZ Auschwitz geflüchtete Häftlinge wieder eingefangen worden waren, wurden diese Menschen in einer grauenhaft lustigen Operetteninszenierung von ihren Henkern zurückgebracht. Die Häftlingskapelle mußte dann Hoffmanns Lied spielen als flotten Marsch. Und die Todgeweihten mußten am Spalier der angetretenen KZ-Häftlinge vorbeimarschieren zum Prügelbock und zum Galgen. Und weil die geflüchteten Vögel wieder eingefangen waren, mußten die Gepeingten selber in dieser Zeremonie laut singen:

8

Alle Vögel sind schon da, Alle Vögel, alle!

Welch ein Singen, Musiziern, Pfeifen, Zwitschern, Tirilier’n! 

Frühling will nun einmarschier’n, Kommt mit Sang und Schalle.

Und wenn dann das Reimwort „einmarschier´n“ kam, dann hatten die SS-und Gestapo- Leute und die Wachleute der Wehrmacht ihren Heidenspaß. Nur weil der Dichter vor hundert Jahren kein besseres Reimwort gefunden hatte, mußte der Frühling marschieren und mit ihm die Gepeinigten. Aber sogar in stärkeren Gedichten besserer Poeten kann ein einziges falsch gesetztes Wort alles verderben, alles ungenießbar machen wie eine ausgelaufene Galle das berühmte Huhn im Topf der armen Leute. Es gibt ein Kinderlied vom Brecht, der nannte es 1949 mit schlauem understatement gegenüber der Becherhymne „Kinderhymne“. Dieses Lied könnte eines wirklich schönes Tages die neue Nationalhymne der Deutschen werden. Das Lied existiert, sogar mit Musik, wir Deutschen haben es sozusagen in Reserve. Womöglich ist unser Land nur noch nicht reif dafür.

Mag sein, vielleicht erleben es die Jüngeren unter Ihnen ja noch, daß der Deutsche Bundestag in einer wahrscheinlich wütenden Kampfabstimmung Brechts Kinderhymne zur offiziellen Hymne auch für die Erwachsenen erklärt. Ich werde Ihnen das kurze Stück zum Schluß vorsingen. Und dann hätten Sie einen kleinen Vorsprung vor Ihren deutschen Mitbürgern. Ich will Ihnen aber ausgerechnet an diesem hinreißend schönen Text zeigen, daß auch das Weltgenie Brecht nur mit Wasser kochen konnte. Die Worte gehn so:

Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land

Daß die Völker nicht erbleichen Wie vor einer Räuberin

Sondern ihre Hände reichen Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter Andern Völkern wolln wir sein Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir’s

Und das liebste mag’s uns scheinen So wie andern Völkern ihrs.

Ich hatte vor Jahren die Gelegenheit, den originalen Versuch Brechts zu lesen, wie er im Brechtarchiv in der Chausseestraße aufbewahrt wird. Da heißt die erste Zeile nicht etwa „Anmut …“ sondern: Arbeit sparet nicht noch Mühe …

Und dieses allererste Wort „Arbeit…“ hat der Meister dann im Schreibmaschinen-Skript mit der Hand durchgestrichen und verbessert mit einem Wort, das wir alle lieben und seit Schillers Essay dessen tiefere Bedeutung auch begriffen haben: Anmut… Ohne dieses Zauberwort „Anmut“ aus dem Gürtel der griechischen Schönheitsgöttin Venus wäre Brechts erste Zeile eher geeignet als Anfang eines Liedes für den stalinistischen Stachanow-Wettbewerb um den Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“: Arbeit!! sparet nicht!! noch Mühe!! …

Und dennoch bleibt nach dieser Verbesserung eine interessante Schwachstelle im vollendeten Gedicht. In der schlechten Erstfassung: „Arbeit sparet nicht noch Mühe …“ bedient das Wörtchen „sparet“ bestens die beiden Hauptbegriffe: Arbeit und Mühe. Weder an Arbeit noch an Mühe sollte nach Meinung des Herrn Brecht beim Auferstehen aus den Ruinen des II. Weltkrieges gespart werden. Aber die entscheidende Verbesserung mit dem zarten und eleganten Wort „Anmut“ war zugleich eine Verschlechtbesserung. Das folgende Scharnier-Wort „sparet nicht …“ wurde nun unsinnig und unsinnlich. Warum? Anmut hat der Mensch oder er hat sie nicht, da gäbe es also gar nichts zu sparen.

Dennoch begeistert mich diese Brechtsche Kinderhymne. Lassen Sie mich zum Schluß sagen warum: Brecht spielt da nämlich genial mit Hoffmanns geflügeltem Unwort „Deutschland über alles in der Welt“. Brecht ließ sich nach dem Sieg über Nazideutschland nicht wie viele Andere in die dazu passende Gegendummheit fallen. Er widersprach dem aggressiven Selbstmitleid vieler Deutscher nach dem Krieg. Solche all zu flotten Umlerner tönten nun: Wenn wir also nicht mehr auserlesen sein dürfen als Herrenvolk über allen Völkern – ok! – dann wollen wir in der Schande unserer Niederlage wenigstens auserlesen tief tief unter allen Völkern sein. Sie verstehen schon: Nach dem gröhlenden Größenwahn war dies der After-Chauvinismus.

Ich habe Ihnen hier mehr zu danken als Sie vielleicht denken. Die Auszeichnung hat mich irritiert und angestachelt. Und daß ich hier heute vor Ihnen stehen muß und stehen darf und auch will, das hat mich dazu gezwungen, dem deutschen Dichter Hoffmann von Fallersleben gerechter zu werden. Ihre lokalpatriotisch gewachsene Zuneigung zu diesem Menschen teile ich inzwischen, und muß mich dabei ganz und gar nicht verrenken. Also wage ich zum Schluß eine arglos fröhliche Behauptung: Der Dichter des Liedes der Deutschen würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hell begeistert sein, wenn er da oben neben Brecht auf der Wolke sitzt und diese neue Hymne der Deutschen mit der raffiniert einfachen Musik von Hanns Eisler bis hoch in den Dichter-Himmel klingen hörte. Er würde sich pathetisch selbst zitieren, er würde schwärmen wie auch hoffentlich Sie hier in Höxter: „Welch ein Singen, Musiziern!“

Gesang: Anmut sparet nicht noch Mühe …