3. Rede: Prof. Dr. Peter Glotz
Prof. Dr. Peter Glotz
3. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede 2003
am Sonnabend, dem 1. Mai 2004, 11.00 Uhr,
im Kaisersaal von Schloss Corvey
Der renovierte Kaisersaal im Schloss Corvey strahlte in frisch renoviertem Glanz, als am Morgen des 1. Mai 2004 rund dreihundert Besucher aus nah und fern sich zur 3. Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede an dieser traditionsreichen Stätte trafen. Die Tatsache, dass alle Karten vergeben worden waren, zeigte die große Resonanz, die diese Rede findet, und machte zugleich deutlich, dass die Veranstaltung inzwischen zu einer festen Tradition in unserer Region geworden ist.
Festredner der 3. Hoffmann-von-Fallersleben-Rede war Herr Prof. Dr. Peter Glotz.
Auf den Wert dieser Tradition wies auch der Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey in seinen Begrüßungs-worten als Hausherr hin. Er führte unter anderem aus:
„Hoffmann von Fallersleben hat in seiner Eigenschaft als Leiter der Corveyer Bibliothek sehr viel Segensreiches getan, und so sind wir ihm zu großem Dank verpflichtet. Aus dieser Dankbarkeit heraus haben wir dieser Feier am 1. Mai seinen Namen gegeben. Mit seinem Deutschlandlied ist Hoffmann in ganz Deutschland bekannt geworden, und so soll das Thema dieser Reden auch in erster Linie Deutschland sein, von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Die deutsche Vergangenheit hat eine sehr bewegte, dramatische, ja man sagen tragische Rolle gespielt. Unsere Gegenwart hat mit der Wiedervereinigung und dem Beitritt zur Europäischen Union einen unglaublichen Wandel erlebt, und so ist die zukünftige Entwicklung unserer Heimat in Europa eine faszinierende Fragestellung.“
Eingeführt wurde der Festredner anschließend von Michael Bludau, dem Sprecher des Arbeitskreises „Hoffmann von Fallersleben“ im Heimat- und Verkehrsverein Höxter. Bludau knüpfte an den Titel eines Buches an, das Peter Glotz 1965 veröffentlicht hat. Es nannte sich „Versäumte Lektionen“ und stellte für Schüler Lesetexte zusammen, welche „die Idee der kritischen Vernunft“ in die Schule umsetzen sollten. Das anregende Buch habe nur ein Defizit – so Bludau -, es fände sich unter den Texten keiner von Hoffmann von Fallersleben. Dabei müsse man feststellen:
„Unsere deutsche Geschichte, unser nationales Selbstverständnis und unser leidvoller Weg zur Republik sind etwas, dem wir uns – mit der gleichen Leidenschaft wie einst Hoffmann – stellen müssen, weil wir nur so jene Ortsbestimmung durchführen können, die wir
► als Staatsbürger in einer sich dramatisch verändernden Gesellschaft,
► als europäische Bürger in dem am heutigen Tage entstehenden Groß-Europa,
► und als Weltbürger in einem fragwürdig geordneten globalen Wirrwarr
dringend benötigen.“
Glotz habe in seinen Publikationen immer wieder gezeigt, dass er Begriffe wie „Deutschheit“, „Patriotismus“ oder „Nationalismus“ kritisch auf die Waage gelegt hätte. Solch kritisches Abwägen sei aber durchaus im Sinne Hoffmanns, der sich in seinen „Unpolitischen Liedern“ stets verächtlich über bornierte Stammtischpatrioten und kritiklose Philister geäußert habe. So sehe man im Kaisersaal von Corvey einer weiteren „Versäumten Lektion“ gespannt entgegen.
Prof. Glotz knüpfte in seiner Rede zunächst an das Heine-Zitat an, das im vorigen Jahre Bundesaußenminister a.D. Dr. Klaus Kinkel angeführt und mit dem er seine Rede geendet hatte. Heine habe von den vielen „konfiszierlichen Büchern“ gesprochen, die in seinem Kopf herumschwirrten und die „gefährlicher noch als die von Hoffmann von Fallersleben“ seien. Glotz unterstrich, dass man in der Tat ein autoritäres Regime durch populäre Lieder, wie das Hoffmann tat, gefährlicher angreifen könne als durch ganze Kompanien. In diesem Sinne handelte die Rede zunächst von Hoffmann als „einem der Wegbereiter des Nationalstaats der Deutschen“. Der Redner untersuchte als erstes die Frage, wie das Nationalgefühl entsteht, das notwendig ist, damit ein Nationalstaat entstehen kann. Er folgte dabei den Untersuchungen des tschechischen Historikers Miroslaw Hroch, der diesen Entstehungsprozess so beschreibt:
„Die Erzeugung jener Gedanken und Gefühle, die wir je nachdem Nationalgeist, Patriotismus oder Nationalismus nennen, verläuft in drei Phasen: Einer ersten, in der eine Gruppe von Intellektuellen mit Interesse und Hingabe Sprache, Kultur und Geschichte des Volkes studieren, in der sie aber ohne weitergehenden Einfluss auf die Gesellschaft bleiben; einer zweiten Entwicklungsstufe, der des ‚nationalen Erwachens’, in der eine rege patriotische Agitation festzustellen ist und der Einfluss auf breite Volksschichten beginnt; und einer dritten, während der die nationale Bewegung eine Angelegenheit breitester Schichten wird.“
Wer waren denn nun im Deutschland des 19. Jahrhunderts „die wirkungsmächtigsten Vorkämpfer“ der Nationalstaat-Idee? Glotz rechnete dazu als erste den Philosophen, Theologen und Schriftsteller Johann Gottfried Herder und daneben den Philosophen Johann Gottlieb Fichte mit seinen „Reden an die deutsche Nation“. Richtig populär hätten aber die nationale Idee erst die beiden „grandiosen Zuspitzer“, Ernst Moritz Arndt (mit seinen Slogans wie „Der Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze!“) und Friedrich Ludwig Jahn, der als „Turnvater“ bekannt geworden ist. Aber – so Glotz – „Unsere Arndts und Jahns waren ordentlich fremdenfeindlich, besonders franzosenfeindlich, ordentlich antisemitisch und gelegentlich auch ordentlich autoritär. Das alles war Hoffmann nicht.“ Man müsse sich zwar hüten, eine geradlinige Biographie Hoffmanns konstruieren zu wollen, denn auch Hoffmann hat im Laufe seines Lebens seine Meinungen gewechselt. Doch sei „der Franzosenhass der deutschtümelnden Turner und der Patrioten auf den Bierbänken“ nicht seine Sache gewesen – ebenso wenig wie der volkstümliche Antisemitismus. „Wenn alle 48er eine solche Haltung bewahrt hätten, hätte der deutsche Nationalstaat, der in den fürchterlichen zwölf Jahren der Nazis verunglückt ist, glücken können.“ So könne man mit Fug und Recht sagen, dass Hoffmann ein „Vorkämpfer für einen demokratischen Nationalstaat“ gewesen sei.
Nach diesen historischen Überlegungen stellte Peter Glotz die Frage, „was aus dem deutschen Nationalstaat, für den Hoffmann von Fallersleben ein Vorkämpfer war“, werden dürfte. Die Antwort lautete:
„Wir sind mitten in einer politisch aufgewühlten Entwicklung, die am Ende entweder zu einem europäischen Staatenverbund mit politischer Handlungsfähigkeit oder zu einem Völkerkonglomerat führen dürfte, zu einer Freihandelszone mit okkasioneller Politikkoordination. Ob jetzt das eine oder andere passiert, ist entscheidend für das Wohlergehen der Menschen, die auf dem deutschen Territorium leben.“
Allerdings schätzte der Festredner die weitere europäische Entwicklung eher skeptisch ein:
„Die Grundfrage allerdings ist, ob aus dieser Europäischen Union etwas wird. Ich habe die Bundesregierung ein Jahr im Europäischen Konvent vertreten. Ich kann nicht verstecken, dass mich heute oft genug Skepsis beschleicht. Die Erweiterung um zehn Staaten wird nur dann erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Vertiefung erfolgt, wenn also der Vorschlag zu einem Verfassungsvertrag, den der Konvent gemacht hat, durchgesetzt wird. Es hat aber keinen Zweck, sich zu verschweigen, dass das immer unwahrscheinlicher wird. Egal, ob dieser Verfassungsvertrag in einem der mittelosteuropäischen Staaten am Volk scheitert oder in Großbritannien: Eine Europäische Union von 25 oder 27 Mitgliedern, in der jeder einzelne Staat ein Veto einlegen kann, wäre vergleichbar dem Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation kurz vor dem Reichsdeputationshauptschluss. Ich weiß, wenn man Kommissar oder Europaabgeordneter ist, darf man so etwas nicht sagen. Ich bin aber weder Kommissar noch Europaabgeordneter.“
Die Hoffnungen, die heute in den europäischen Einigungsprozess gesetzt werde, hätten gewisse Parallelen zu Hoffmann und seiner Zeit:
„Hoffmann kämpfte erstens gegen die Fürstenherrschaft und zweitens gegen die Kleinstaaterei. Der Kampf gegen die Fürstenherrschaft hat lange genug gedauert, aber ist schließlich gewonnen worden. Der Kampf gegen die Kleinstaaterei machte Sinn, so lang man Menschen, die die gleiche Sprache sprachen und sich gegenseitig verstanden, zu einem Volk, zu einer politischen Gesellschaft vereinigen konnte. Heute sind wir in einer neuen Situation. Die 456 Millionen, die ab heute der Europäischen Union zugehören, mit ihren 23 Sprachen und ihren ganz unterschiedlichen Traditionen, kann man nicht zu einem Volk vereinen. Trotzdem sind die meisten dieser Staaten heute so etwas ähnliches wie die hundert kleinen Fürstentümer und Territorien, gegen die Hoffmann kämpfte. Wir müssen also einen handlungsfähigen Verbund dieser Staaten schaffen. Wird uns das gelingen? Ich schließe das nicht aus. Ich bin aber auch nicht sicher. Jedenfalls rate ich, den freudetrunkenen Triumphreden, die heute gehalten werden, nicht zu glauben. Um Europa steht es ernster, als die Staatschefs zugeben. Ich formuliere nicht so hart wie Hoffmann. Bei dem heißt es – im Gedicht ‚Stichelei’
Meint es keiner anders als er spricht,
gäb es so viel Lumpenhunde nicht.
Ich nehme das Wort Lumpenhunde nicht in den Mund, außer wenn ich zitiere. Aber in einem bin ich mit Hoffmann einig: Wenn keiner es anders meinte, als er spricht, stünde es besser um Europa. Und wenn es besser um Europa stünde, stünde es auch besser um die europäischen Nationalstaaten.“
Im Anschluss an diese so zahlreich kritische Denkanstöße enthaltende Rede dankte Bürgermeister Hermann Hecker dem Gastredner. Er erinnerte an die Schlagzeile in einer Zeitung in Zusammenhang mit einem Artikel über Peter Glotz: „Die Partei braucht mehr eigenwillige Charakterköpfe!“ und fasste den Dank der Versammlung in den Worten zusammen:
„Beurteilen Sie selbst, Herr Professor Glotz, ob Sie dieser eigenwillige Charakterkopf sind, aber gewiss sind Sie ein Querdenker und Stratege, der es schafft, über den Tellerrand hinauszublicken, und der es schafft, seine Zuhörer in seinen Bann zu ziehen und an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. Und so wurden auch uns heute neue Horizonte eröffnet.“
Bürgermeister Hecker überreichte dann die Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Plakette. Anschließend trug sich Peter Glotz in das Goldene Buch der Stadt Höxter ein.
Die Veranstaltung wurde sehr ansprechend und künstlerisch brillant von ausgewählten Liedern auf Gedichte von Hoffmann von Fallersleben umrahmt, dargeboten von Katharina Hagopian und Hans Hermann Jansen, Gesang, und Prof. Frank Löhr, Klavier. Den Schluss bildete dabei ein Komposition von Frank Löhr „Blüh’ im Glanze dieses Glückes … – Introduktion, Variationen und Hymne für Klavier“, die zum gemeinsamen Singen der letzten Strophe des „Liedes der Deutschen“ führte.
Anschließend traf man sich im Kreuzgang von Corvey zu einem regen Gedankenaustausch, der zeigte, wie nachhaltig die diesjährige Corveyer Hoffmann-von-Fallersleben-Rede auf alle Anwesenden gewirkt hatte.
Zusammengestellt von Michael Bludau